Der Jade-Pavillon
lieben doch dieses schöne Land.«
»Sagen wir: Ich habe mich an dieses Land gewöhnt.«
»Das ist das Gleiche, Herr Professor. Wer China liebt, liebt es mit ganzem Herzen, oder er wird es nie lieben. Bitte bleiben Sie.«
Zwei Tage später unterschrieb Dr. Pohland seinen neuen Vertrag. Er hatte auch von Diplomaten gehört, daß die Erneuerer um Deng Xiaoping mächtiger seien als die konservativen Linken mit der Mao-Bibel in der Hand.
»Ich sehe keinen Grund für einen Vertragsbruch, Erika«, sagte Dr. Pohland zu seiner Frau. »Im Gegenteil. Man hat mir ein neues Labor versprochen, das ich mit den modernsten Geräten einrichten kann. Es soll das Musterlabor für alle anderen chinesischen Universitäten werden. Was versetzt dich eigentlich so in Angst?«
»Gerüchte, Dietrich. Schüttle nicht den Kopf. An jedem Gerücht ist ein Körnchen Wahrheit. Ich habe Angst, ganz einfach Angst.«
Im September 1976 starb Mao Zedong. Er wurde zweiundachtzig Jahre alt. China versank in Trauer, aber es atmete auch auf. Was kommt nach Mao? war die Frage. Wer übernimmt die Macht über eine Milliarde Chinesen? Werden die Grenzen geschlossen oder weit geöffnet?
Im Oktober, nicht einmal einen Monat nach Maos Tod, hielt die Welt vor Staunen den Atem an. Die mitleidlosen Führer der Kulturrevolution, im Volk schon längst als ›Viererbande‹ bezeichnet, wurden verhaftet: Maos Witwe Jiang Qing, Maos Schwiegersohn Yao Wenyuan, Zhang Chunqiao und Wang Hongwen. Als das Verhaftungskommando bei Maos Neffen Mao Yuanxin erschien, hatte sich dieser mit Gesinnungsgenossen verschanzt und leistete Widerstand. Das Haus wurde gestürmt und Yuanxin auf der Stelle erschossen. Der Weg für Deng Xiaoping war frei.
Drei Tage blieb Dr. Pohland in seiner Villa, die gepackten Koffer standen in der Diele, der Koch, die Haushälterin und das Hausmädchen saßen in der großen Küche und weinten. Sie weinten nicht aus Angst davor, daß man sie jetzt ebenfalls in ein Gefängnis schleppen würde – denn als Informanten der Geheimpolizei der alten Machthaber drohte ihnen die Bestrafung durch die neuen Regierenden –, sie weinten aus wirklicher Treue zu der Familie Pohland. Vor allem die Haushälterin war nicht zu beruhigen; sie hatte den Blondschopf Holger in ihr Herz geschlossen, nannte ihn zärtlich ›unser Goldköpfchen‹ und sah es als ihre Lebensaufgabe an, aus ihm einen starken, schönen und ehrenhaften Mann zu machen, eine ›Langnase‹, die chinesisch denken und fühlen sollte. Die Angst vor einer Bestrafung durch die neue Regierung war ihnen übrigens schon kurz nach Maos Tod genommen worden. Der Koch hatte von einem Onkel Besuch bekommen, der aber kein Onkel war, sondern ein Major der Geheimpolizei, und dieser hatte dem Personal von Dr. Pohland mitgeteilt, daß sich nichts geändert habe, man vielmehr weiterhin Berichte darüber erwarte, was im Haus des Deutschen geschah, was am Tisch und im Salon gesprochen wurde, wer Dr. Pohland besuchte und an wen seine Post gerichtet war. Außerdem wurde das Haus in die ›Liste der unantastbaren Häuser‹ aufgenommen; es würde also bei einer Razzia nicht belästigt werden.
Das war nun alles dreizehn Jahre her. Professor Dr. Pohland war unlösbar mit der Universität verbunden, er war ein Teil des Ruhmes dieser Universität, und wenn er an Deutschland oder sogar an Heidelberg dachte, empfand er kein Heimweh mehr. Für ihn war China zur Heimat geworden, er konnte sich nicht vorstellen, woanders als in Beijing zu leben, und wenn er ab und zu in der internationalen Buchhandlung deutsche Zeitungen und Magazine kaufte, wunderte er sich über die Politik von Bonn und Pankow, schüttelte den Kopf über die Kleinkariertheit deutscher Politiker, die Grabenkriege der Parteien, die großen deutschen Probleme, die, weltpolitisch gesehen, doch so unwichtig waren. Ob Kohl und Strauß sich zankten oder die Filmschauspielerin X heimlich mit dem Industriellen Y ins Bett stieg, was die ganze deutsche Nation in Aufregung versetzte – Dr. Pohland ließ das alles kalt. China hatte ihn aufgesaugt.
Aus Holger Pohland war das geworden, was Jin Jingwen, die Haushälterin, als ihr Lebensziel angesehen hatte: Er war zwar eine Langnase, aber er dachte und fühlte ganz chinesisch, studierte an der Universität von Beijing Medizin, liebte heimlich eine chinesische Kommilitonin, spielte in einer chinesischen Band Trompete, fuhr ein verchromtes, aus Frankreich importiertes Luxusfahrrad, trug Jeans aus Texas und T-Shirts mit buntem
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