Der Jade-Pavillon
Rotgardisten. Fünftausend Jahre chinesischer Kultur gingen in Flammen auf, wurden niedergewalzt oder in ausgeraubte Ruinen verwandelt. Intellektuelle, zu denen fast jeder gerechnet wurde, der eine Brille trug, so daß Millionen Chinesen ihre Brillen versteckten oder vernichteten, wurden verhaftet und zu ›Erziehungssitzungen‹ gebracht, was nur ein anderes Wort für Folter war, oder sie wurden in Umerziehungslagern zusammengepfercht, die im Volksmund bald ›Ställe‹ hießen. Eine Selbstmordwelle ging durch das Land, berühmte Wissenschaftler erhängten sich oder schnitten sich die Pulsadern auf, bevor die Rotgardisten ihre Häuser stürmten und sie selbst wegschleppen konnten, und man erzählte sich von Professoren, die in den Kellern ihrer Universität wie wilde Tiere eingesperrt, jeden Tag herausgeholt und bis zur Besinnungslosigkeit mit Knüppeln und Gewehrkolben geschlagen wurden oder denen man das Rote Buch in den Mund stopfte, damit sie erstickten.
Das alles war lange, bevor Dr. Pohland nach Beijing kam, geschehen. Die Kulturrevolution war zwar noch nicht beendet, aber das Morden und Zerstören hatte aufgehört, weil es nichts mehr zu töten oder zu zerschlagen gab. Das Manifest des Zehnten Parteitages der Kommunistischen Partei Chinas vom August 1973, in dem verkündet wurde, daß Kampagnen wie die Große Kulturrevolution in Zukunft noch zehn-, zwanzig- oder dreißigmal durchgeführt werden sollten, blieb nur ein Bekenntnis. Das Entsetzen der Welt über die Millionen Toten ließ nach, die China-Politik der westlichen Staaten beschäftigte sich mehr mit den wirtschaftlichen Aussichten, die ein Milliardengeschäft versprachen. Deng Xiaoping, bisher stellvertretender Ministerpräsident, wurde 1975 zum stellvertretenden Vorsitzenden des Zentralkomitees ernannt und übernahm auch die Amtsgeschäfte von Ministerpräsident Zhou Enlai.
Ein streng gehütetes Geheimnis wurde enthüllt: Zhou Enlai war unheilbar krank. Er hatte Krebs. Und während in Beijing das Zweite Plenum des Zentralkomitees tagte, empfing Mao Zedong in der Stadt Hangzhou den deutschen Politiker Franz Josef Strauß. Die deutsche Industrie drängte nach China, einem Markt von fast unvorstellbarer Größe. Dr. Pohland war damals bereits drei Jahre in Beijing.
Als Zhou Enlai Anfang 1976 starb und Hua Guofeng sein Nachfolger wurde, gehörte Dr. Pohland zu den Teilnehmern der Beisetzungsfeierlichkeiten.
»Ich glaube, wir sollten jetzt nach Deutschland zurück«, sagte Erika Pohland zwei Monate nach Zhou Enlais Tod. Es war Anfang März, und in Guangzhou war etwas Unglaubliches geschehen: Auf einer großen Wandzeitung stand geschrieben: ›Jiang Qing ist die Prostituierte der Ausbeuterklasse.‹ Jiang Qing war die Frau Mao Zedongs, des Großen Vorsitzenden. »Es sieht nach einem neuen Bürgerkrieg aus«, fuhr Erika fort. »Die Parteilinken gegen die Fortschrittlichen um Deng Xiaoping. Sie werden auch uns verhaften. Dein Beschützer Zhou ist tot. Für Mao bist du jetzt auch nur noch ein Intellektueller und ein Ausländer dazu. Sie sind schnell mit der Verdächtigung bei der Hand, daß du ein Spion bist.«
»Erika, das ist doch Unsinn! Jeder an der Universität weiß – «
»Was nützt das?« unterbrach ihn Erika. »Wenn man nichts wissen will, können sie mit dir machen, was sie wollen.«
»Ich habe meinen Vertrag um drei Jahre verlängert.« Dr. Pohland hatte nach Zhou Enlais Tod eine lange Unterredung mit dem Kulturminister gehabt; dieser hatte ihm mit größter Höflichkeit versichert, daß sich mit dem Amtsantritt von Hua Guofeng nichts ändern werde; man werde sich vielmehr glücklich schätzen, wenn Dr. Pohland sein großes Wissen China weiterhin zur Verfügung stellen wolle. Nach der Besprechung war ein hoher Beamter Dr. Pohland gefolgt und hatte ihn im Treppenhaus beiseite genommen.
»Herr Professor«, hatte der Beamte ihm zugeflüstert, »wir befinden uns in einer Übergangszeit. Es wird in den nächsten Monaten große Veränderungen geben. Deng Xiaoping wird die Macht übernehmen, wenn Mao gestorben ist. Wir warten alle auf seinen Tod. Der Rote Gott ist von seinem Thron gestürzt – es will nur keiner sehen, solange er lebt. Die Zukunft unseres Volkes wird eine unblutige Revolution sein: die Öffnung nach Westen. – Sie haben an Rücktritt gedacht?«
»Ja. Ich werde um meine Entlassung bitten.«
»Tun Sie es nicht, Herr Professor. Warten Sie noch kurze Zeit! China wird neue Wege gehen. Und seien Sie ehrlich gegen sich selbst: Sie
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