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Der Jade-Pavillon

Der Jade-Pavillon

Titel: Der Jade-Pavillon Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heinz G. Konsalik
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mein Sohn, und das Leben ist nicht bloß ein funktionierender Motor. Sieh es so und lobe Wu, daß er uns unterstützt. Im Namen der Kranken lobe ihn.«
    In den Semesterferien hielt es Jian nicht mehr zu Hause: Er fuhr nach Dali und wohnte bei Onkel Zhang Shufang, dem großen Dichter und Maler. Zu seinem Geburtstag hatte Jian von seinem Vater einen kleinen japanischen Wagen geschenkt bekommen, und diesmal war es sogar Fengxia, die das Auto über das Zentralkomitee besorgte. Deshalb weigerte sich Jian zunächst, den Wagen anzunehmen, aber dann nahm er ihn doch, denn es wäre eine Beleidigung seines Vaters gewesen, das Geschenk zurückzuweisen.
    In Dali fuhr Jian fast täglich mit einem Boot über den Erhai-See. Er sah den Fischern zu, oder er lag in seinem Boot, die Arme hinter dem Nacken gekreuzt, blickte zu den schroffen Gipfeln des Cangshan-Gebirges hinüber und dachte an viele Märchen, die man sich hier seit Jahrhunderten erzählte.
    Ab und zu segelte Jian auch zur Insel Jinsuo Dao, aß in dem kleinen Fischerdorf frischen, über Holzkohle gebratenen Fisch, oder er legte an der kleinen Tempelinsel Xiao Putuo Dao an, setzte sich in den Schatten der zierlichen Säulen und war glücklich, nur die Natur um sich zu haben und keine Menschen. Doch manchmal packte ihn der Drang, fremde Menschen in ihrer häuslichen Umgebung zu sehen, und dann besuchte er die Dörfer der Minderheiten, ging durch die Gassen der Bai-Siedlungen, sprach mit Angehörigen der Yis oder sah den Huis beim festlichen Hammelessen zu; die Huis waren Mohammedaner und hatten ihren Glauben über die Jahrhunderte gerettet.
    »Morgen ist der große Markt von Xiaguan«, sagte eines Tages Onkel Zhang zu ihm. »Willst du nicht hinfahren und ihn ansehen?«
    »Ein Markt – was gibt es da zu sehen?«
    »Aus allen umliegenden Gebieten kommen die Bauern und Händler, die Handwerker und die Garköche nach Xiaguan, vor allem die Minderheiten in ihren Trachten, ein Völkergemisch aus Rassen und Stämmen und noch nicht erforschten Menschengruppen. Sogar die Miaos kommen – du wirst sie an ihrem Silberschmuck erkennen und an der Fröhlichkeit ihres Wesens. So etwas muß man gesehen haben, Jian. China war immer voller Wunder, aber das Wunderbarste ist der Mensch. Ich rate dir: Fahr nach Xiaguan. Die Märkte in Kunming sind Stadtmärkte, hier aber greifst du voll in die Natur.«
    Jian ließ sich überreden. Am Morgen fuhr er das kurze Stück von Dali nach Xiaguan. Am Rand des Marktes stellte er seinen Wagen an einer Lehmmauer ab, im Gewühl der Dreiradtraktoren und ihrer Anhänger. Die Menschen wimmelten um ihn herum, und er sah Trachten, die er nur von Fotos kannte. Ochsenkarren bahnten sich einen Weg durch die Menge. Mit dem Höllenlärm ihrer Hupen scheuchten Lastwagen und Busse die Menschen zur Seite. Kärrner, meist Bauern der nächsten Umgebung, zogen ihr mit Kohl, Melonen, Tomaten, großblättrigem Spinat, Mandarinen und Apfelsinen, Porree und Ingwerwurzeln beladenes Gefährt durch den aufwirbelnden Staub, und Jian drängte sich dazwischen, ließ sich von der Menge mitschieben, blieb an den langgestreckten Schuhständen stehen, aß vor einer Garküche ein Schälchen herrlicher Nudelsuppe und schaute einem blinden Bettler zu, der mit zittriger Stimme und in einem Dialekt, den Jian nicht kannte, wehmütige Lieder sang und dabei nickte, wenn er am Klang hörte, daß jemand eine Münze in seinen Reisstrohhut warf, was aber sehr selten war. Jian warf ihm einen halben Yuan zu.
    Der Bettler unterbrach seinen eintönigen Gesang und sagte: »Hab ein langes Leben für weitere Wohltaten.« Jian lachte, und der Blinde sang weiter.
    So kam, im Gedränge sich vorwärts schiebend, Jian zu dem Tisch eines Zahnarztes, der gerade einen Patienten behandelte und einen gelben Zahnstumpf zog. Der Zahnbrecher nickte Jian zu, sagte: »Warte, ich bin gleich fertig« und beugte sich wieder dem weit aufgerissenen Mund des Patienten entgegen. Der Patient rollte mit den Augen, alles in seinem Kiefer krachte, aber er gab keinen Laut von sich, vielleicht weil er ein Held sein wollte oder durch die Flüssigkeit, mit der der Arzt vorher seinen Kiefer eingepinselt hatte, wirklich keinen Schmerz empfand. Um den Tisch des Zahnarztes drängten sich neugierig die Menschen und bewunderten den Haufen Zähne, die er ausgestellt hatte.
    Als Jian sich nach einem kurzen Gespräch mit dem Zahnarzt umwandte, stieß er ein Mädchen an, das dicht hinter ihm stand. Er entschuldigte sich, fragte sie, ob er ihr

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