Der Jade-Pavillon
hätten, wäre Huang der Überzeugung gewesen, Chang habe diese Welt verlassen.
»Geht es dir schlecht?« fragte Huang teilnahmsvoll. »War es wieder eine böse Nacht?«
Chang schwieg. Nur in die Fingerkuppen der gefalteten Hände zog ein kaum sichtbares Zittern.
»Hast du Schmerzen?« fragte Huang weiter. »Hilft dir Jians Medizin nicht mehr?«
Chang antwortete nicht. Nur etwas Leben trat in seine Augen, er öffnete und schloß die Lider, und dann wandte er den Kopf Huang zu und sah ihn stumm an.
»Soll ich dir eine Tasse mit heißem Wasser bringen?« Der Blick, der Huang traf, ließ ihm einen Schauer über den Rücken laufen.
»Nein!« sagte Chang plötzlich. Seine Stimme klang so hohl, als spräche er in einen leeren Blecheimer, und Huang schrak vor diesem Klang zusammen.
»Kannst du nicht mehr aufstehen und gehen?«
»Ich sterbe«, sagte Chang dumpf. »Ich sterbe.«
»Du redest, also lebst du.«
»Ich bin eine leere Hülle, Huang. In mir ist nichts mehr – alles ausgehustet und ausgespuckt. Ich warte, daß die Hülle zusammenfällt wie ein Schlauch ohne Luft. Wenn Lida ihren Büffel holt, werde ich tot sein.«
»Das ist in einer halben Stunde.« Huang versuchte aufmunternd zu lächeln. »Wenn der Mensch der Zeit befehlen könnte, wäre die Welt längst untergegangen. In einer Stunde stehst du im Garten und fütterst die Hühner.«
»In einer Stunde bin ich unterwegs, Staub im Staub zu werden.« Chang schloß die Augen. Die Morgensonne, die durch die Bretterritzen fiel, blendete ihn, ja sie schmerzte, und sonst hatte er sie jeden Morgen mit ehrerbietigen und schmeichelnden Worten begrüßt und sich bedankt, daß er sie wiedersehen konnte. »Ich möchte dir noch etwas mitteilen, Huang«, sagte er. »Noch ist es Zeit.«
»Erzähl, so viel du willst.«
»Du wirst schreckliche Dinge hören, Huang.«
»Nicht schrecklicher, als ich sie mit dir 1976 erlebt habe. Wir alle wissen es: Du bist ein Mörder.«
»Und warum habt ihr mich nicht sofort erschlagen, als ich nach so langen Jahren zu euch kam?«
»Du bist als ein alter, kranker, gequälter Mann gekommen, der die gleichen Leiden erfahren hat, die du deinen Opfern angetan hast. Aber das war es nicht, Chang, warum ich dir nicht eine Eisenstange über den Kopf schlug. Auch Mitleid war es nicht – du hast kein Mitleid verdient. Verzeihung? Wie kann man dir jemals deine Verbrechen verzeihen? Wo du gegangen bist, haben deine Stiefel eine Blutspur hinterlassen, und du hattest keine Seele, denn sie hätte zerspringen müssen von den Schreien der Gequälten und der Sterbenden. Und trotzdem habe ich meine Hand nicht gegen dich erhoben, als du plötzlich vor der Tür meines Hauses standest. In diesem Augenblick habe ich mich nur an eins erinnert. Nicht an die Folterung meines Sohnes Tifei oder an die Schändung meiner Frau Jinvan. Ich habe nur an eines gedacht, und deshalb haben wir dich bei uns aufgenommen, als seist du ein Verwandter, der aus weiter Ferne zu uns gewandert ist.«
»Und was war das, woran du gedacht hast?«
»Du hast Lida leben lassen. Du hast sie sogar vor deinen Rotgardisten geschützt. Du hast deine Bande weggeschickt, und mein Dank war so groß, daß ich dich in meinem Bett schlafen ließ, und ich stand in dieser Nacht vor dir und wollte dir die Kehle durchschneiden, und ich konnte es nicht, weil ich Lida ansah, die durch einen Wink von dir hatte am Leben bleiben dürfen.« Huang beugte sich wieder über Changs Gesicht. »Warum hast du sie leben lassen?«
»Es gibt darauf keine Antwort. Es gibt Dinge, die allen Erklärungen trotzen. Ich konnte sie nicht töten. Sie lief vor mir her, klein, mager, ein ängstliches Vögelchen, und sie hat mich mit Augen angesehen, die mich daran erinnerten, daß ich auch eine Tochter hatte, so jung wie sie, und daß ich jedem das Herz herausgerissen hätte, der sie anfaßte oder ihr Böses antun wollte. Das war es vielleicht, was mich hinderte, Lida zu packen und ihren Kopf an der Wand deiner Schule zu zertrümmern.«
»Du hast eine Tochter?« fragte Huang verwundert. »Du hast nie von ihr erzählt. Und wo ein Kind aufwächst, ist auch eine Mutter, die es geboren hat. Warum bist du zu uns gekommen und hast nicht den Weg zu deiner Tochter und ihrer Mutter gesucht?«
»Ich habe sie gefunden. Sie lagen in einem Massengrab, erschossen von Konterrevolutionären, die Maos kleine Generäle verjagten und wußten, daß Shufen und Tianlin die Frau und das Kind des Kommissars Chang Lifu waren. Sie haben für mich
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