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Der Jadereiter

Der Jadereiter

Titel: Der Jadereiter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Burdett
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Frauenunterwäsche, Schuhe, Aschenbecher, einen Staubsauger, dessen Schlauch sich um das Beistelltischchen windet, zerdrückte Bierdosen, ein paar noch nicht geöffnete Flaschen Wein und auf einem Sideboard so viele Schminksachen, daß das Ganze aussieht wie ein Steinhaufen. Nichts ist horizontal oder vertikal, alles ruht schief auf etwas anderem in dieser riesigen Fünfzimmerwohnung, die genug Platz böte für zwanzig ordentliche Thai-Mädchen, von denen sie mit Sicherheit tadellos saubergehalten werden würde.
    Zwei der Frauen sind uns in den Raum gefolgt, die anderen streiten sich auf dem Flur. Russisch vor sich hin murmelnd, beginnt Iamskoij, Sachen von einem Sofa auf einen Haufen in der Ecke zu werfen: einen schwarzen Büstenhalter, einen Band eines Nachschlagewerks, eine Shampooflasche, Bücher, die er wie lange verloren geglaubte Freunde betrachtet, bevor sie ebenfalls auf dem Haufen landen. Es dauert ein paar Minuten, bis wir uns setzen können. Er nimmt auf dem Boden Platz, den Rücken gegen ein anderes vollgemülltes Sofa gelehnt, und sagt etwas zu der Frau in dem kurzen schwarzen Kleid, die daraufhin ein paar Plastikbecher holt. Sie gießt Wodka in die Becher und reicht sie uns, ohne zu fragen, ob wir etwas wollen. Dann gibt sie die Flasche Iamskoij und schenkt sich selbst einen Drink aus einer der anderen ein. In der Zwischenzeit verläßt die zweite Frau das Zimmer.
    »Zoija hat einen Termin mit einem General der Armee«, erklärt er. »Ein neuer Kunde, deshalb ist sie ein bißchen nervös und trinkt nicht soviel.« Wir sehen Zoija zu, wie sie ihren Becher noch einmal mit Wodka füllt und ihn mit einem Zug leert. Dann sagt sie auf russisch etwas zu Iamskoij, der sie mit einer Geste entläßt. »Erstaunlich, nicht?« fragt er Kimberley Jones.
    »Was?«
    »Haben Sie ihre Figur gesehen? Stämmige Beine, fetter Arsch, kurzer, kräftiger Torso, runde Schultern – eine Form, die sich über viele Jahrtausende für das Überleben in der Steppe und die harte Feldarbeit entwickelt hat –, aber der General findet sie exotisch und zahlt ihr zehnmal mehr als all diesen braunhäutigen Göttinnen hier.«
    Die Wohnungstür fällt ins Schloß.
    »Vielleicht ist es Liebe«, sagt Kimberley Jones.
    Einen Moment sieht Iamskoij sie verblüfft an, dann grinst er breit. »Das war gut, richtig gut.« Er setzt die Flasche an die Lippen und trinkt einen großen Schluck. Ich sehe, wie sich sein Adamsapfel bewegt. »In den Augen einer Amerikanerin wirke ich sicher noch mehr wie ein Wrack als in meinen eigenen, oder?«
    »Ich habe keine Ahnung, ob Sie sich selbst als Wrack wahrnehmen«, antwortet Kimberley Jones. Ich merke, daß auch Iamskoij gespannt wartet, ob sie einen Schluck von ihrem Wodka nimmt. Um sie zu provozieren, nippe ich an meinem. Erfreut stelle ich fest, daß der Wodka gewürzt ist. Kimberley Jones ertappt mich, wie ich sie beobachte, und stellt ihren Becher auf die Armlehne der Couch.
    »In meinen Augen bin ich tatsächlich ein Wrack, sozusagen atomisiert. Als Nuklearphysiker muß ich es wissen. Niemand hatte eine Ahnung, wo mein Meister, der große Sacharow, uns hinführen würde. Er war wie Christus, der sich gegen das Römische Reich stellte. Wer hätte damals auf Christus gesetzt? Aber das waren ja auch keine Russen. Russen lieben aussichtslose Wetten.«
    »Sie haben mit Sacharow zusammengearbeitet?«
    »Nun, um die Wahrheit zu sagen: Ich war Assistent seines Assistenten. Noch genauer: Assistent des Assistenten seines Assistenten. Der Kommunismus war am Ende merkwürdig hierarchisch, was schon viele Leute bemerkt haben.« Er nimmt einen weiteren Schluck. »Finden Sie es nicht auch ironisch, daß die Umwandlung der russischen Gesellschaft, die hauptsächlich von Sacharow, einem Nuklearphysiker, eingeleitet wurde, unsere Atomisierung zur Folge hatte? Das ist, als würde man eine schlechte Pointe imitieren. Natürlich hat uns damals niemand gesagt, wohin das führen würde. Wir wußten, daß der Kapitalismus alle zur Hure macht, aber das konnten wir uns in unserem theoretisch logischen Universum nicht vorstellen. Seit dem Fall der Sowjetunion bin ich zum stolzen Inhaber mindestens zwanzig verschiedener Persönlichkeiten aufgestiegen. Das ist nötig in der globalen Wirtschaft. Ich bin ausgebrannter Physiker, intellektueller Snob, Trinker, gescheiterter Poet, abtrünniger Ehemann, abwesender Vater, Meister unvollendeter Romane, unfähiger Geschäftsmann, Liebhaber des Russischen Balletts, Bankrotteur und Zuhälter.

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