Der Jäger
irgendwann einmal alles zusammen. Bei mir war es heute Nachmittag so. Es liegt wohl am Wetter. Wie haben Sie so schön gesagt – im traurigen Monat November war’s? Wollen Sie sich nicht setzen und mir ein wenig Gesellschaft leisten? Ich fühle mich heute auch ziemlich elend.«
»Darf ich fragen, warum?« Viola Kleiber nahm, wie vor ihr schon Carmen Maibaum, hinter dem Schreibtisch Platz.
»Sie dürfen mir jede Frage stellen, aber leider darf ich Ihnen nicht jede Frage beantworten. Doch heute war einer der miserabelsten Tage in meinem Leben. Am liebsten würde ich mich in einem Mauseloch verkriechen oder irgendwohin fahren, wo mich keiner kennt, und einfach ein neues Leben beginnen. Kennen Sie das auch?«
»Ja, Professor, nur zu gut. Wollen wir etwas gegen unsere trübe Stimmung unternehmen? Es gibt da eine nette Bar in Neu-Isenburg. Nur was trinken. Was halten Sie davon? Ich habe etwas gutzumachen.«
»Nur was trinken?«
»Ja, heute trinken wir nur etwas. Und bitte, nennen Sie mich Viola.«
»Und was sagt Ihr Mann dazu?«
»Wozu? Dass wir beide etwas trinken gehen? Er weiß es nicht. Er hat wahrscheinlich nicht einmal mitbekommen, dass ich nicht zu Hause bin. Ich habe heute Nachmittag beschlossen, mein eigenes Leben zu führen. Ich weiß jetzt, dass ich viel zu abhängig von ihm war. Und ich habe schon einmal gesagt, eigentlich bin ich ein Vogel, der frei sein will. Und jetzt werde ich diese Freiheit genießen. Gehen wir?«
»Und ich dachte schon, ich würde Sie nie wiedersehen. So kann man sich täuschen.«
»Das Leben steckt eben voller Überraschungen. Und bei mir ist man vor keiner sicher«, sagte sie mit einem schelmischen Lächeln und stand auf, während Richter seine Jacke überzog.
»Nehmen wir Ihren oder meinen Wagen?«, fragte Viola Kleiber.
»Wir nehmen meinen. Sie können mir ja den Weg weisen, Viola.«
Richter wusste, sie würden an diesem Abend nur etwas trinken, plaudern und später allein einschlafen. Aber es gab noch so viele Tage und Abende und Nächte. Viola Kleiber.
Montag, 21.10 Uhr
Polizeipräsidium. Vernehmungszimmer.
Carmen Maibaum saß am Tisch, vor sich ein Mikrofon. Durant, Hellmer und Kullmer waren mit im Raum, Berger war informiert worden und wollte gleich kommen.
»Warum haben Sie die Frauen getötet?«, fragte Durant jetzt schon zum zehnten oder zwanzigsten Mal.
Sie erhielt immer dieselbe Antwort: »Fragen Sie Professor Richter,er kennt den Grund. Ich habe lange mit ihm darüber gesprochen. Ansonsten verweigere ich vorerst jede weitere Aussage.«
»Professor Richter steht unter Schweigepflicht.«
»Na und, dann entbinde ich ihn in diesem Fall davon.« Carmen Maibaum zündete sich die fünfte Zigarette an. Sie machte einen sehr gefassten Eindruck.
»Gut, dann holen wir Richter her.«
Julia Durant gab Hellmer ein Zeichen, woraufhin dieser im Nebenzimmer verschwand und bei Richter anrief. Es meldete sich nur sein Anrufbeantworter. Danach versuchte er es auf seinem Handy, Mailbox. Er hinterließ eine Nachricht auf dem Anrufbeantworter und der Mailbox, in der Hoffnung, Richter würde bald zurückrufen.
Um halb zehn kam ein von Alexander Maibaum beauftragter Anwalt vorbei, um sich mit Carmen Maibaum zu besprechen. Das Gespräch dauerte eine Viertelstunde. Der Anwalt sagte, Frau Maibaum sei müde und möchte in ihre Zelle gebracht werden. Die Beamten stimmten dem zu, beschlossen, für heute Schluss zu machen. Carmen Maibaum wurde von einer Beamtin untersucht und danach in ihre Zelle geführt. Als die Tür laut zufiel, legte sie sich auf die schmale, harte Pritsche und schloss die Augen.
Berger kam, als die Kommissare gerade das Präsidium verließen. Hellmer erstattete ihm kurz Bericht, sagte, das Verhör werde morgen früh um acht fortgesetzt. Anschließend stiegen alle in ihre Wagen und fuhren nach Hause.
Montag, 22.20 Uhr
Julia Durant hatte die Post aus dem Kasten geholt, die aus nichts als Reklame bestand, und ging mit müden Schritten nach oben. Sie schloss die Tür auf, die Luft in der Wohnung war wie so oft abgestanden und stickig, streifte ihre Schuhe ab, zog die Jackeaus und ließ sie einfach auf den Boden fallen. Dann holte sie sich zwei Dosen Bier aus dem Kühlschrank, stellte einen Sechserpack, den sie eben an der Tankstelle gekauft hatte, hinein, und wusch sich die Hände und das Gesicht. Ihre Augen waren klein, ihr Körper ein einziges Vibrieren. Sie griff zum Telefon und wählte die Nummer von Dominik Kuhn. Zu Hause erreichte sie ihn nicht,
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