Der Jahrtausendkaiser: Der Jahrtausendkaiser
langsam verstreichenden Tages hatte er nicht nur fruchtlosen Gedanken an Dionisia nachgehangen, sondern auch die vergangenen Tage betrachtet.
»Zuerst habe ich die jüdischen Geldverleiher in der Stadt aufgesucht, um nach Unterlagen über eventuelle Darlehen zu fahnden, für die Ihr Urkunden hinterlegt hättet. Diese Urkunden hätte ich kopieren können.« Radolfs Erstaunen war jetzt einem Ausdruck des Entsetzens gewichen. Er starrte Philipp mit offenen Mund an. Philipp fühlte darüber eine grimmige Befriedigung. »Dann bin ich zum Kloster Sankt Peter geritten und habe mich im Archiv umgesehen. Bei all dem habe ich zweierlei festgestellt. Erstens: Es gibt Unterlagen über eine Kreditaufnahme anläßlich der Hochzeit einer Frau Katharina von Als und anläßlich der Taufe eines Mädchens namens Dionisia. In beiden Fällen lautet der Name des Familienvorstands nicht auf Euren Namen. Zweitens: Es gibt wahrhaftig keine Unterlagen über Eure Eheschließung im Kloster. Ich wollte es nicht glauben, als Ihr es sagtet, aber Ihr habt Bruder Fredgar tatsächlich die Originaldokumente abnehmen können. Welcher Name steht statt dem Euren auf den Dokumenten aus dem Kloster, daß Ihr Euch genötigt fühltet, sie Fredgar abzupressen und zu verbrennen?«
»Was willst du damit sagen?« zischte Radolf, aber es klang weniger bedrohlich als vielmehr resigniert.
»Ich weiß nicht, was ich damit sagen will!« rief Philipp. »Erklärt Ihr es mir.«
»Es gibt nichts zu erklären. Mach, daß du rauskommst.«
»Radolf«, sagte Philipp drängend, »erklärt es mir. Ich bin hier, um Euch zu helfen.«
Radolf antwortete nichts. Er starrte Philipp mit zusammengepreßten Kiefern ins Gesicht. Nach einigen Sekunden wandte Philipp den Blick ab und drehte sich um.
»Ich bitte Euch um eine weitere Nacht Quartier«, sagte er förmlich. »Morgen früh werde ich zurückreiten und meinen Auftrag niederlegen.«
Er schritt hinaus und verfluchte sich für das, was er gesagt hatte.
Wenn er Radolfs Besitz morgen verließ, würde das bedeuten, daß er Dionisia niemals wiedersah. Er hoffte, daß Radolf ihn zurückrufen würde, aber dieser sagte kein Wort. Plötzlich wurde es Philipp im Saal zu eng. Er stolperte aufden Eingang zu, um ins Freie hinaus zu gelangen. Undeutlich hörte er das Scheppern von Küchengeräten, mit denen Dionisia hantierte. Über die Außentreppe heraufklang das rauhe Singen von Ernst, der direkt vor dem Eingang in seinem Zuber saß und trotz seiner Differenzen mit Radolf im Moment mit sich und der Welt im reinen schien.
»He, Philipp!« rief Radolf. Philipp blieb stehen und drehte sich um. Radolf stand neben seiner Kammer, die herabhängende Decke halb beiseite geschoben und winkte ihm mit dem Kopf zu. Philipp ging zögernd zurück.
»Dionisia ist nicht meine Tochter«, sagte er, als Philipp wieder in die Kammer getreten war und Radolf die Decke hatte zurückfallen lassen. »Ich habe ihre Mutter geheiratet, kurz nachdem ich aus dem Heiligen Land zurückgekommen war. Ich hatte ihren Vater gekannt; er starb in einem Hospiz auf dem Lager neben mir, an der Ruhr. Ich überlebte und schwor mir, die Witwe zu heiraten.«
Philipp holte tief Luft. Sein Erstaunen war zu groß, als daß er es hätte in Worte fassen können. Radolf sah ihn prüfend an.
»Das ist der Grund, warum ich alle Unterlagen aus dem Kloster geholt und vernichtet habe. Ich wollte sichergehen, daß niemand darauf stößt; ich wollte vor allem sichergehen, daß sie es niemals erfährt. Dionisia weiß es nicht; sie war noch zu klein, als ich ihre Mutter zur Frau nahm.« Sie weiß es doch , dachte Philipp unzusammenhängend. Sie ist sich nur nicht im klaren darüber. Sie erinnert sich, daß ihr Vater ein Fremder für sie war, als er vom Pilgerzug zurückkam. Er sprach seine flüchtigen Gedanken nicht aus. Er starrte in Radolfs regungsloses Gesicht, als dieser fortfuhr:
»Die Verwandten meiner Frau waren mit dieser Heirat nicht einverstanden. Ich gehörte nicht zum Haus ihrerSippe, was bedeutet, daß sie mich nicht zum Vasallendienst verpflichten konnten; und ich stand geringer als ihr verstorbener Mann. Ich war für sie völlig ohne Nutzen; dazu kam, daß ich über keinerlei Geldmittel mehr verfügte. Ich war jung und dumm in den Krieg gegen die Heiden gezogen und hatte das gesamte Vermögen eingesetzt, das mein Vater und mein Bruder mir vermacht hatten. An einen Kredit hatte ich niemals gedacht und auch niemals einen genommen – anders als Katharinas erster Mann, der
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