Der Jahrtausendkaiser: Der Jahrtausendkaiser
Als sie sah, was passiert war, wurde sie schier rasend. Ich konnte sie nur mit Mühe überwältigen und in ihre Kammer bringen.« Philipp dachte an die Nacht, in der Dionisia versucht hatte, sich Ernst hinzugeben. Was immer sie für ihn gefühlt hatte, für sie war es Liebe gewesen. »Sie wird sich etwas antun«, sagte er tonlos.
Radolf schüttelte den Kopf. »Ich habe sie gefesselt und angebunden. Sie hat erst vor kurzem zu schreien aufgehört. Vermutlich ist sie eingeschlafen.«
»Sie hat ihn ... geliebt«, würgte Philipp hervor. Radolf zuckte mit den Schultern und antwortete nicht.
»Warum hat er Euch angegriffen?« fragte Philipp schließlich. »Habt Ihr Euch gestritten?« Er trat noch einen weiteren Schritt auf die Leiche zu und ging neben ihr in die Hocke. Vorhin hatte er sich einen Moment davor gefürchtet, daß der Tote unvermittelt in die Höhe springen würde. Als er nun den Geruch von Leder und Schweiß aufnahm, der um Ernsts stille Gestalt lag und in dem das bleierne Aroma von Blut nur schwach bemerkbar war, fühlte er lediglich Mitleid mit dem bulligen Mann. Er berührte ihn sanft an der Schulter. In Ernsts Körper war die Schwere des Todes, und es gelang ihm schließlich nur mit beiden Händen und mit größerer Anstrengung, seinen Oberkörper herumzudrehen. Die erschlafften Muskeln ließen den Leichnam in einer verdrehten Stellung zur Ruhe kommen, die mehr als das Blut auf der Vorderseite seines Wamses und das bleiche Gesicht vom Tod erzählte. Radolf, regungslos und ohne Philipp geholfen zu haben, gab ein kleines Geräusch von sich. Ernsts Augen waren nicht ganz geschlossen. Philipp brachte es nicht über sich, die kalte Haut zu berühren und die Lider zuzudrücken.
Der Schnitt im Vorderteil des Lederwamses schien unbedeutend. Zur Hälfte war er von einem der metallenen Plättchen zugedeckt. Die Klinge war auf dem Plättchen darunter aufgetroffen und nach oben abgelenkt worden. Dort war sie in den Zwischenraum eingedrungen und hatte Ernsts Leben beendet, ein schneller Stich, dem ein ebenso langsamer wie unerbittlicher Tod folgte. Der Lage des Stichs nach zu urteilen hatte Radolfs Stoß das Herz noch verletzt. Philipp warf einen Blick auf das Messer: Die Klinge war in ihrer ganzen Länge mit braunen Flecken bedeckt. Radolf hatte sie bis zum Heft hineingestoßen, mit einer Kraft, die vom Schreck ebenso wie vom Haß gelenkt worden sein mochte. Es hatte Ernsts Kraft bedurft, um ihn noch so lange leben zu lassen, wie Radolf gesagt hatte. Sein Mund stand offen, und in dessen Winkeln war blutiger Schaum angetrocknet.
»Ihr müßt seinen Tod melden«, erklärte Philipp, während Radolf gleichzeitig sagte: »Wir müssen ihn begraben.«
»Ihn begraben?« rief Philipp. »Ihr wollt ihn einfach so verschwinden lassen?«
Radolf nickte, ohne Philipp ins Gesicht zu sehen.
»Warum? Wenn es sich so zugetragen hat, wie Ihr sagtet, trifft Euch keinerlei Schuld!«
»Er wird draußen auf dem Friedhof begraben«, erklärte Radolf hartnäckig.
»Radolf, damit macht Ihr Euch nur verdächtig. Früher oder später wird man ihn auf seinem Hof vermissen. Ich weiß nicht einmal, ob er eine Familie hatte; wahrscheinlich warten eine Frau und Kinder auf seine Rückkehr. Man wird ihn suchen, und man wird auch zu Euch kommen. Wie wollt Ihr erklären, daß man ihn auf Euren Besitz hat kommen sehen, aber daß niemand sah, wie er ihn verließ?« Philipp dachte an den Pferdeknecht und daran, daß die Dörfler, sollten sie alle zusammen so denken wie jener, Ernst jegliche Art des Verschwindens zutrauen würden, einschließlich einer Fahrt durch die Lüfte auf den Schwingen eines feuerspeienden Drachen. »Als Euer Gast war Ernst ein Mitglied Eures Haushalts. Die Gerichtsbarkeit über ihn liegt damit bei Euch. Ihr braucht nur die öffentliche Ordnung anzurufen und anzugeben, daß er Euch angegriffen hat.«
Radolf verzog das Gesicht. »Jeder wird glauben, ich habe ihn hinterrücks ermordet.« Er sah auf und begegnete für einen kurzen Augenblick Philipps Blick. Seine Augen waren unstet und konnten Philipp nicht standhalten. »Warum glaubst du das nicht?« murmelte er.
»Weil ich gesehen habe, wie schnell er reagierte. Ihr hättet Euch ihm niemals von vorne nähern und sein eigenes Messer in die Brust stoßen können; er hätte Euch in der Luft zerrissen, noch bevor Eure Hand auf seinem Griff gelegen wäre.«
Radolf antwortete nicht auf die offene Annahme Philipps, er wäre Ernst nicht gewachsen gewesen. »Ich könnte es ihm von
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