Der Jahrtausendkaiser: Der Jahrtausendkaiser
Zeit auf der Straße gefolgt und hätten nun endlich aufgeschlossen. Es wurden keine Fragen gestellt, und Philipp und Aude sahen sich nicht gezwungen zu lügen.
Zu lügen? dachte Philipp. Was hätte ich denn leugnen sollen? Daß ich mit meinem Rausch im Bauch in der Sonne eingeschlafen bin und die Frau eines verschwundenen Schurken meinen Schlaf bewacht hat? Er sah vorsichtig zu Aude hinüber, die mit gesenktem Kopf ein paar Schritte vor ihm ritt, umgeben von den plaudernden Frauen der Gefährten seines Herrn. Philipps Denken befaßte sich mit dem Anblick von Audes lächelndem Gesicht, eingerahmt von ihrem seltsam kurz, seltsam ungleichmäßig geschnittenem Haar. Unwillkürlich verglich er sie mit Dionisia, und der Vergleich verwirrte ihn. Der Wein pochte noch immer in seinem Kopf und verursachte ihm Unbehagen, und die tiefstehende Sonne brannte in seine Augen. Seufzend ließ er sich im Sattel zusammensinken und schrieb seine Verwirrung den Nachwirkungen des Rausches zu, wohl wissend, daß sie damit gar nichts zu tun hatte.
Es war noch jemand still und in sich gekehrt auf dem Heimweg: Galbert. Obwohl die Knappen und Knechte der Herren um ihn herum scherzten und alberten, blieb er schweigsam und mürrisch. Man hatte ihn nicht mehr in die Kirche hineingelassen. Statt dessen war eine Gruppe Mönche nach draußen gekommen und hatte die Menschen ermahnt, sich ruhig zu verhalten und nach Hause zu gehen. Von den nahenden Tagen der Wiederkehr Christi hatten sie nichts gesagt, und er fragte sich, wie er und die vielen hundert anderen einfachen Menschen, die mit ihm auf dem Platz standen, während des großen Umbruchs bestehen sollten, wenn ihre geistlichen Führer ihnen keinerlei Verhaltensmaßregeln nahelegten. Wäre er nicht zu enttäuscht zu einem Gespräch gewesen, hätte er die Knechte der Herren befragen und feststellen können, daß auch innerhalb der Kirche niemand die Wiederkunft Christi erwähnt hatte. Der Unterschied war nur der, daß dieser Umstand den Herren und Damen völlig egal war.
Während des gemeinsamen Abendmahles auf dem Hof näherte sich einer der Torwächter dem Tisch, an dem der einigermaßen wiederhergestellte Philipp mit Raimund und seinen nächsten Gefährten saß. Er trug eine Fackel und ein merkwürdiges Gesicht zur Schau und flüsterte Philipp etwas ins Ohr, woraufhin dieser die Brauen zusammenzog und hastig aufstand. Aude sah ihm nach, wie er zusammen mit dem Wächter mit großen Schritten zum Tor eilte.
»Bist du wirklich sicher, daß es das gleiche Mädchen ist?« »Es ist die Kleine aus dem Dorf, mit der du reden wolltest und die nichts gesagt hat«, erklärte der Wächter. »Ich hab’ sie doch gesehen, als wir dort waren.«
Das Mädchen stand verloren im Fackelschein gleich hinter dem Tor. Entweder hatten die Wächter ihre Ungefährlichkeit erkannt, oder die Angst, die sie ausstrahlte, hatte sich auch ihnen mitgeteilt – jedenfalls bildeten sie einen viel weiteren Kreis um sie herum, als sie es üblicherweise bei einem Neuankömmling taten, und betrachteten sie schweigend. Philipp nahm die Fackel, die ihm einer reichte, und näherte sich ihr langsam. »Laßt mich mit ihr allein.«
Philipp hockte sich auf den Boden, reckte die Fackel über den Kopf und sah das Mädchen an. Er hatte die Distanz gehalten, an die er sich von ihrer ersten Begegnung erinnerte: zu weit, um sie berühren oder gar einfangen zu können.
»Bist du allein gekommen?« fragte er und kam sich idiotisch vor. Sie würde nicht antworten. »Warum bist du gekommen?« fragte er wie unter Zwang hinterher. Er wandte sich zu den Wächtern um. »Ist sie ohne Begleitung aufgetaucht?«
»Wir haben draußen nachgesehen, als sie plötzlich vor dem Tor stand. Es war niemand zu sehen«, antwortete einer. Philipp kniff die Augen zusammen und musterte das Gesicht des Mädchens, das unverwandt auf ihn gerichtet war.
»Was willst du von mir?« fragte er leise.
Das Mädchen streckte zögernd eine Hand aus. Philipp verspürte einen plötzlichen Stich: Die Bruchstücke des Steins lagen darin. Er streckte ebenfalls die freie Hand aus. Sie waren noch immer zu weit voneinander entfernt, als daß sie sich hätten berühren können; zwei ausgestreckte Hände, die eines Kindes und die eines Mannes, die ein ganzer Schritt voneinander trennte. Unendlich langsam hob das Mädchen einen Fuß, schob ihn über den Boden nach vorne und zog den zweiten zögernd nach. Ihre Hand war jetzt über der Philipps; sie drehte sie und ließ die drei Teile
Weitere Kostenlose Bücher