Der Jahrtausendkaiser: Der Jahrtausendkaiser
singen begann, wenn er betrunken war‹«, zitierte Aude. »Daswar Lamberts Beschreibung, und sie beschreibt eindeutig Geoffroi.«
»Das war Renatas Beschreibung davon, was sie wiederum von Lambert gehört hat.«
»Ihr glaubt doch selbst, daß es sich um Geoffroi handelt, sonst würdet Ihr nicht mit mir in die Stadt reiten. Warum versucht Ihr mich vom Gegenteil zu überzeugen?«
»Weil ich nicht weiß, in welche dunklen Geschäfte Euer Mann und Radolf verwickelt sind.«
»Ihr wollt mich wieder vor unliebsamen Entdeckungen schützen. Das habt Ihr die ganze Zeit versucht, und was ist dabei herausgekommen? Außerdem ist es nur Eure eigene Überzeugung, daß Geoffroi ein schlechter Mensch ist, Ihr könnt Euch ebensogut täuschen.«
Philipp schnaubte unlustig und schwieg. Nach einer Weile hieb er mit der Faust wütend auf seinen Oberschenkel.
»Worüber ärgert Ihr Euch jetzt schon wieder?« fragte Aude.
»Lambert war der Schlüssel zu der ganzen Angelegenheit. Ich hätte ihn nur zu fragen brauchen. Jetzt ist es zu spät dazu. Wer weiß, worüber er noch Bescheid wußte und es mit ins Grab genommen hat.«
»Er hätte Euch nichts gesagt. Er hat doch den Ausweg der Beichte genommen, um sein Gewissen zu erleichtern.«
»Das ist richtig. Ich hätte auch Thomas fragen können. Nur daß er auch tot ist.«
»Philipp«, sagte Aude und verdrehte die Augen, »er hätte es Euch noch weniger gesagt. Lambert beichtete es ihm, versteht ihr nicht? Ein Priester würde niemals den Inhalt einer Beichte verraten. Er kann sich nur bei seinem Bischof oder dem Abt seines Klosters Rat holen, wenn ihn die Bürde beschwert.«
»Ihr habt ja recht. Ich ärgere mich auch nur, das ist alles.« »Völlig sinnlos.«
»Wenn ich Euch nicht hätte, um mir zu sagen, was sinnlos ist und was nicht, würde ich vermutlich den ganzen Tag nur völligen Unsinn machen.«
»Das ist richtig«, bekräftigte Aude. Da Philipp erstaunlicherweise schwieg, sagte sie nach ein paar Momenten: »Was geschieht mit dem Mädchen?«
»Mit Renata? Der Herr wird sie auf dem Hof behalten, wie die Alten und Kranken, für die er zu sorgen hat. Er hat gesagt, er wolle sie nicht mehr dorthin schicken, wo sie täglich den Erinnerungen an den Mord an ihrer Familie ausgesetzt ist.«
»Ihr wißt, daß sie nur Euretwegen auf den Hof gekommen ist.«
»Meinetwegen?«
»Ihr habt mir erzählt, daß Ihr ihr die Steine geschenkt habt, die sie bei sich hatte. Ich nehme an, das war die erste freundliche Geste seit langem, die ihr jemand entgegenbrachte.«
»Ich dachte nicht, daß Ihr klargeworden wäre, daß ich mit ihr sprechen wollte.«
»Ihr dürft Kinder nicht unterschätzen. Sie bekommen fast alles mit, selbst wenn sie keine Verbindung mit der Außenwelt zu haben scheinen oder der Tod sie schon fast in seinen Armen hält ...« Ihre Stimme erstarb, und sie räusperte sich.
»Ihr denkt noch immer an Eure Kinder, habe ich recht?« fragte Philipp sanft.
»Als ich die Kleine gestern auf dem Hof stehen sah ... völlig verlassen unter dem großen Tor ... und Ihr versuchtet, zu ihr durchzudringen ...«, sie schüttelte den Kopf undseufzte. »Wenn Kinder am Fieber sterben, ist es ähnlich. Sie starren einen unverwandt an, sagen nichts und reagieren nicht auf Fragen, und in ihren Augen brennt die Bitte: Hilf mir.« Aude wischte sich hastig über die Wange. »Entschuldigt.«
Philipp fühlte den Drang, zu ihr hinüberzugreifen und ihre Hand zu nehmen. Im letzten Moment hielt er sich zurück. »Wie hat es Euer Mann ertragen?« fragte er.
»Daß die Kinder gestorben sind? Er war gebrochen. Aber er ließ sich nichts anmerken. Das Leben geht weiter, sagte er. Ihre Seelen sind jetzt frei. Daraus müssen wir Trost schöpfen.«
»Ist das Leben weitergegangen?«
»Natürlich, nach einer Weile. Irgendwann habe ich ihren Tod akzeptiert. Wenn ich heute noch weine, dann aus Liebe und weil ich sie vermisse, nicht mehr aus Verzweiflung.« Sie preßte die Lippen zusammen und schien nachzudenken. »Ich denke, wer in Wirklichkeit nicht darüber hinwegkam, ist Geoffroi. Er wollte mich stützen während dieser Zeit und auf andere Gedanken bringen, und darüber hat er vergessen, selbst mit seiner Trauer fertigzuwerden.«
»Ihr liebt ihn sehr, nicht wahr?«
Aude wandte ihm den Kopf zu und musterte sein Gesicht. Sie brauchte so lange mit der Antwort, daß Philipp sicher war, er würde sie ebensowenig erhalten wie beim erstenmal.
»Wenn Ihr die Wahrheit wissen wollt«, sagte sie schließlich, »er
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