Der Jahrtausendkaiser: Der Jahrtausendkaiser
Ihr in Sicherheit.«
Aude nickte mit bleichem Gesicht. Der Schreck in ihren Augen war das letzte, was er von ihr sah.
Sie führten Philipp in raschem Marsch durch die Stadt bis in die weitläufigen Flächen von Oursburg hinaus, wo nur noch an den Ausfallstraßen zu den Stadttoren Gebäude standen. Der Weg verlief schweigsam; Rutger war in der Herberge zurückgeblieben, und die Büttel, die Philipp abführten, antworteten nicht auf seine Fragen. Philipps Herz klopfte heftig, während er versuchte, sich einen Reimauf die Geschehnisse zu machen. Je weiter sie sich aus dem Zentrum der Stadt entfernten, desto hastiger wurden seine fruchtlosen Überlegungen, und desto schneller drehten sie sich im Kreis. Er nahm an, daß sein Schicksal plötzlich mit dem der beiden Geldverleiher verknüpft war, und dies nicht nur durch die Person Rutgers, der in beiden Fällen die Festnahme durchgeführt hatte – aber in welcher Weise, blieb ihm verschlossen. Bei der Pfarrkirche von Sankt Johann bogen sie nach Osten ab und steuerten nach wenigen Schritten auf ein wuchtiges Gebäude zu. Philipp sah daran empor. Er kannte den Bau; es war die Deutschordens-Kommende. Plötzlich wurde ihm klar, wohin er geführt wurde: Hier logierte der Großhofrichter des Kaisers, der sich seit einiger Zeit in der Stadt aufhielt. Das Tor der Kommende öffnete sein Mannloch, der Schatten des Torbaues fiel über ihn, Philipp schlüpfte hindurch, wurde innen von weiteren Bewaffneten in Empfang genommen und wortlos über den engen Hof getrieben. Sie trabten ein paar Stufen hoch in einen Eingang, durchquerten in rascher Folge einige kleine, düstere Säle und liefen tief im Herzen des Gebäudes eine andere Treppe hinab. Schließlich hielten sie an. Eine Klappe im Boden, die mit einer Kette über einem Galgen in die Höhe gezogen wurde; eine weitere, enge Treppe, die steil nach unten führte; der fahle Geruch von dunklen, feuchten Kellerräumen, der zäh über die Treppenstufen heraufkletterte: Philipps Herz schlug einen rasenden Wirbel, und er stolperte den Bewaffneten voraus die Treppe in die Dunkelheit hinunter und in ein Verlies. Alles, was er wußte, war, daß die letzten, die Rutger in irgendein Verlies in der Stadt hatte bringen lassen, es lediglich für ihren Gang zum Galgen wieder verlassen hatten.
Einer von Raimunds Knechten war vor längerer Zeit in der Stadt aufgefallen; betrunken nach einem Fest, hatte er sich einem Mädchen genähert, das er für eine Schlupfhure auf der Schau nach Freiern hielt, und ihr Angebote gemacht. Sie hatte ihn empört zurückgewiesen, und so war er ihr gefolgt, von Zorn wie von Lust gleichermaßen aufgestachelt und noch immer im Glauben, es handle sich bei ihr um eine Dirne, die nur auf reichere Kundschaft aus war. Als sie in einem Haustor verschwand, setzte er ihr nach, zwang sie zu Boden und vergewaltigte sie. Wie sich herausstellte, war sie die Tochter eines Patriziers, welcher in demselben Haus wohnte; dessen Knechte, von ihren Hilferufen herbeigelockt, faßten den Übeltäter quasi auf frischer Tat. Das Urteil war schnell gesprochen, da Raimunds Knecht, um sich die peinliche Befragung zu ersparen, in allem geständig zeigte. Vielleicht rechnete er damit, daß ihm wegen seines Irrtums Nachsicht gezeigt werde. Wie sich herausstellte, war seine Hoffnung naiv gewesen. Philipp hatte ihn im Loch besucht, ohne sonderliches Mitleid zu verspüren – eher ein Pflichtbesuch, um zu erfahren, was wirklich passiert war und ihm in dem Falle, daß unter der Folter ein falsches Geständnis aus ihm herausgepreßt worden wäre, zu helfen. Es war seine erste Berührung mit einem Kerker gewesen. Mehrere Gefangene teilten sich einen finsteren, selbst im Sommer bitterkalten Raum, von dessen tropfnassen Wänden unbenutzte Ketten und Halsschellen hingen. Der Boden war verschmutzt und mit faulendem Stroh belegt, das einen beißenden Geruch ausströmte. Ein ebenfalls beißender Geruch kam von dem klobigen Holzkübel in der Mitte des Raumes, in den die Gefangenen ihre Notdurft verrichteten und um den selbst die Ratten einen Bogen machten. Über diesen Gestänkenaber hing, noch unerträglicher als das schimmelige Stroh und die Fäkalien, der Geruch der Menschen, der an den Wänden klebte. Es waren die Ausdünstungen von offenen Geschwüren, von fauligem Atem, von ungewaschenen Körpern, in deren Höhlungen die Maden heranwuchsen, süßliche Verwesung und ranzig gewordener Schweißgeruch, von kranken Blähungen und vor allem von Angst,
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