Der Jahrtausendkaiser: Der Jahrtausendkaiser
müde, daß ich kaum mehr denken kann.« Sie schlang die Arme um den Leib und erschauerte.
Philipp rückte beiseite. »Hier, lehn dich gegen die Mauer des Kamins. Sie strahlt etwas Wärme ab.«
Aude protestierte, aber nicht lange. Sie rutschte auf Philipps Platz und drückte sich gegen die Wand. Philipp streckte beide Hände aus und schnürte vorsichtig sein Wams zu, das sie noch immer über dem Hemd trug. Sie ließ es geschehen, während sie ihn schläfrig anblinzelte. Zuletzt streifte er die Stiefel ab und zog sie ihr über die Füße. Sie zuckte, aber sie war schon fast eingeschlafen und zog nur die Beine an. Schließlich streckte er sich neben ihr auf dem Stroh aus. Er betastete seinen verletzten Fuß, aber außer dem Schmerz, den er bei der Berührung der Stelle empfand, die der Spieß getroffen hatte, fühlte er kaumUnbehagen mehr. Er zog den Fuß zu sich heran und sah, daß die Haut abgeschürft und von einem breiten Bluterguß verfärbt war. Er konnte die Zehen bewegen und den Fuß strecken und krümmen, auch wenn es schmerzte. Er horchte auf das Knistern des Feuers und die regelmäßigen Atemzüge Audes, und ohne daß er es selbst gewahr wurde, schlief er darüber ein.
Am folgenden Morgen wurden sie unsanft gerüttelt, bis sie erwachten.
»Rauf mit euch«, sagte einer der Wächter. Aude blinzelte und zupfte sich Stroh aus dem Haar. Als sie aufstand, stolperte sie über Philipps Stiefel und sah erstaunt nach unten. Dann streifte sie die Stiefel ab und reichte sie ihm.
»Danke«, sagte sie. Philipp schlüpfte in die Wärme, die Audes Füße darin hinterlassen hatten. Seine eigenen Füße waren eiskalt; die Wärme tat ihnen gut. Zu zweit taumelten sie nach oben. Philipps verletzter Fuß war steif und geschwollen, aber die Steifheit verschwand schon, noch während er die Treppe hinaufstieg. Auf den letzten Treppenstufen nahm Aude seine Hand, eine Geste, die ihn so überraschte, daß er stehenblieb.
»Werden sie uns jetzt töten?« fragte sie mit kleiner Stimme, aber ihre Augen blieben fest auf sein Gesicht gerichtet. Er schüttelte den Kopf.
»Wenn sie uns töten wollten, hätten sie uns im Schlaf die Kehlen durchgeschnitten«, sagte er. Ihre Augen weiteten sich, doch er sah, daß ihre Verkrampftheit ein wenig nachließ. Betroffen stellte er fest, daß sie in dem festen Glauben die Treppe hinaufgeklettert war, dies sei ihr letzter Gang. Am liebsten hätte er sie in die Arme geschlossen. DasBewußtsein, daß er sich keinesfalls so sicher über ihr Schicksal fühlte, wie es seinen Worten zu entnehmen gewesen war, hielt ihn zurück. Er hatte gesagt, was ihm gerade in den Sinn gekommen war. Hätte ich diesen Gedanken bereits gestern gehabt, hätte ich sicherlich kein Auge zugetan.
Oben hatte man die Tischplatte auf die Böcke gestellt und etwas zu Essen darauf ausgebreitet. Raimund und Giovanni da Uzzano saßen sich gegenüber und pickten getrocknete Fische und Hafer von der Platte. Philipp verzichtete darauf, ihnen zu sagen, daß mit dieser Platte etliche Leichname transportiert worden waren. Tatsächlich war sein Hunger so groß, daß er auf die einladende Geste des Kardinals hin eine Handvoll Hafer nahm und sie hastig in den Mund schob. Aude sah ihm zu, dann siegte auch bei ihr der Hunger über ihre Beklommenheit.
»Wo ist der Kanzler?« fragte Philipp mit vollem Mund.
»Schon weggeritten«, erklärte der Kardinal. »Wir sind uns einig geworden.«
Philipp warf Raimund einen kalten Blick zu. »Dann nehme ich an, daß wir überleben werden«, sagte er zu Giovanni da Uzzano. »Ansonsten wäre wohl er weggeritten.«
»Das erste stimmt, das zweite bezweifle ich«, erwiderte der Kardinal. »Du kennst deinen Herrn zu schlecht.«
»Das habe ich mir gestern auch gedacht.«
Raimund verzog das Gesicht und schob die Schüssel mit dem Hafer aus seiner Reichweite, als ob er keinen Appetit mehr habe. Er versuchte Philipp in die Augen zu sehen, aber dieser wich seinem Blick aus.
»Was geschieht nun mit uns?« fragte er heiser. »Wird uns die Zunge herausgeschnitten, die Augen ausgestochen und die Hände abgehackt, damit wir kein Zeugnis mehr ablegen können von Euren Schurkereien?«
»Aber nein«, sagte der Kardinal ungerührt. »Du wirst deinen Dienst bei Gott wieder aufnehmen.«
»Was soll das heißen?«
»Ihr werdet ins Kloster gehen, beide«, sagte Raimund und schien Mühe zu haben, ruhig zu sprechen. »Es gibt genügend Klöster, in denen Schweigegelübde herrschen. Ihr werdet eintreten und den Orden sowie
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