Der Jahrtausendkaiser: Der Jahrtausendkaiser
unentschlossen auf seinem Bart, dann nickte er Philipp zu.
»Kommt herein«, sagte er und deutete auf die offenstehende Tür des Gemeindehauses.
Philipp dankte ihm und trat ein paar Schritte auf Audes Pferd zu.
»Ich glaube, es ist alles in Ordnung«, sagte er leise und grinste erleichtert. »Vielleicht haben wir einen ihrer Bräuche verletzt, als wir so mir nichts dir nichts in ihr Viertel geritten kamen.«
Aude schüttelte den Kopf, schickte sich aber an abzusteigen. Philipp hielt sie auf.
»Es wäre mir lieber, wenn Ihr draußen warten würdet«, sagte er.
Aude riß die Augen auf.
»Weshalb denn?« fragte sie ungehalten.
»Ich weiß, daß bei den Juden die öffentliche Unterhaltung zwischen den Geschlechtern verboten ist«, erklärte Philipp. »Daher glaube ich nicht, daß der Parnes sehr erbaut wäre, wenn ich Euch in sein Haus mit hineinschleppte, als wäret Ihr ein Mann und hättet alle seine Rechte.«
»Das sagt Ihr mir erst jetzt? Warum habt Ihr mich dann hierhergebracht?«
»Ihr habt Euch an meine Fersen gehängt«, gab Philipp zu bedenken und versuchte nicht zu grinsen. Zu seinem Erstaunen blieb Aude friedlich. »Ich werde mich beeilen«, versprach er. »Und ihr braucht Euch nicht zu ängstigen. Niemand wird Euch etwas antun.«
Aude machte ein verächtliches Geräusch. Philipp drehte sich nochmals um.
»Tut mir auch bitte den Gefallen, hier nicht herumzulaufen. Es gehört sich nicht für eine Frau, ohne Begleitung unterwegs zu sein. Das gilt im Judenviertel genauso wie außerhalb.«
»Paßt nur auf, daß Ihr Euch nicht daneben benehmt«, zischte Aude wütend.
Philipp konnte seine gute Laune nicht mehr zurückhalten. Er grinste Aude breit an. »Ich bin der Anstand in Person«, sagte er und schlüpfte in das Haus hinein.
Aude seufzte und setzte sich im Sattel zurecht. Ihr Zorn auf Philipp verrauchte ebenso schnell, wie er gekommen war, und machte einer leisen Erheiterung Platz. Sichtlich war ihm erst vor dem Haus des Gemeindevorstehers wieder eingefallen, daß jüdische Männer sich im Umgang mit den Frauen noch unnatürlicher benahmen als der Rest der Welt, und daß er es als Mittel genommen hatte, ihr ihre Hartnäckigkeit heimzuzahlen, belustigte sie eher, als daß sie sich darüber ärgerte. Auf seine Art wirkte seine Rache harmlos und wie ein Spiel, von dem er selbst nicht wußte, daß er es spielte. Die Fähigkeit zur wahren Boshaftigkeit fehlte ihm. Sie dachte, daß er darin in gewisser Weise Geoffroi ähnelte; dem Geoffroi, der er vor langer Zeit einmal gewesen war, bevor er die Arbeit jenseits der Grenze angenommen hatte und verändert davon zurückgekommen war. Nun, um ehrlich zu sein: Auch jener Geoffroi war nicht in Wirklichkeit so gewesen. Woran sie sich erinnerte, war das Wunschbild von Geoffroi Cantat, das sich in ihr geformt hatte, während sie auf die Hochzeit mit ihm wartete, und das er niemals völlig hatte erfüllen können.
Aude verspürte wieder die Sorge um Geoffroi, die sieschon zu spüren begonnen hatte, kaum daß sie verheiratet gewesen waren, und die sie weder jemals hatte benennen noch aus ihren Gedanken verbannen können, so daß sie ein steter Begleiter ihrer Gemeinsamkeit geworden war. Sie erkannte erstaunt, daß sie sich beinahe mit Erleichterung auf die Suche nach ihm gemacht hatte, obwohl die Dauer seines Fortbleibens noch durchaus keinen Anlaß zu ernsten Bedenken gegeben hätte. Die Erleichterung rührte daher, daß sich erstmals ein Weg gefunden hatte, ihrer Sorge einen Namen zu geben: Geoffroi ist etwas zugestoßen. Keine Angst ist so schlimm wie die vor etwas, das man nicht benennen kann.
Sie richtete den Blick auf ihre Umgebung. Mittlerweile hatte sie sich an das fremdartige Erscheinungsbild der Menschen im Judenviertel gewöhnt, aber das Gefühl, in eine andere Sphäre inmitten der Normalität einer abendländischen Stadt ( was immer am Treiben in einer Stadt als normal betrachtet werden kann , spottete sie im stillen) geraten zu sein, verging nicht. Im Gegenteil – das abweisende Verhalten der Bewohner hatte es noch verstärkt. Selbst die Häuser wirkten beklommen. Sie mochten auf den ersten Blick nicht anders aussehen als außerhalb der Gemeinde, aber ein genaueres Hinsehen verriet ein unterschiedliches Lebensgefühl: Die Enge des Viertels und der Drang seiner Einwohner, ihre Behausungen in der Nähe der zentralen Synagoge zu suchen, hatte dazu geführt, daß die Gebäude noch dichter als draußen zueinander standen und den Eindruck einer Bienenwabe
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