Der Jahrtausendkaiser: Der Jahrtausendkaiser
bereits herandämmern sahen und die Ansicht hegten, daß darin kein Platz war für die angeblichen Mörder des Heilands, würden dafür sorgen, daß sie noch unruhiger würden.
Auch ohne die architektonische Trennung zwischen der plateajudeorum und der übrigen Stadt schien es, als würde man eine andere Welt betreten, sobald man, vom Rhein her kommend, durch die Marspforte oder, von Westen wie Philipp und Aude, durch die Judenpforte geritten war. Aude hatte darauf bestanden, ihn zu begleiten, während Galbert sich ohne viel Murren im »Kaiserelefanten« absetzen ließ, wo er dem Wirt um den Bart und den Schankdirnen um ihre drallen Hinterteile gehen würde, um von demeinen ein paar Schluck Wein und von den anderen ein paar zärtliche Gunstbeweise geschenkt zu bekommen. Aude schien über den abrupten Übergang von den christlichen zu den jüdischen Gassen erstaunt zu sein; sie drehte den Kopf mit einer gewissen Aufmerksamkeit hin und her. Das vierte Laterankonzil hatte den Juden vorgeschrieben, einen hohen spitzen Hut zu tragen, um sich von den christlichen Bürgern ihrer Stadt zu unterscheiden, und die weltlichen Herrscher hatten sich den Geboten angeschlossen, indem sie den männlichen Juden zudem untersagten, sich prächtig herauszuputzen. Da sich nur wenige Christen in der Judengemeinde aufhielten, war das Leben in den Gassen demzufolge von den nüchternen, schwarzen Kaftanen und den seltsam anmutenden Kopfbedeckungen bestimmt und wirkte in seiner gepflegten Uniformität ungewohnt im Vergleich zu der bunten, vielfältigen (und unterschiedlich abgerissenen) Kleidung der christlichen Einwohner der Stadt. Die Abfallhaufen in der Mitte der Straße waren niedriger und vereinzelter, als ob die jüdischen Hausbesitzer die Verordnungen der Stadtbehörden, ihren Abfall selbst zu den Sammelgruben zu schaffen, ernster nahmen als die Christen.
Ungewohnt wirkte auch die Stille, in der das Leben im Judenviertel abzulaufen schien. Die Falte zwischen Audes Augenbrauen mochte darauf hindeuten, daß ihr die merkwürdige Stimmung auffiel, während Philipp, der sich schon des öfteren in der Nähe des vicus aufgehalten hatte, wenn er auch noch niemals darin gewesen war, unbefangen durch die Menge ritt. Es fiel ihm jedoch auf, daß er und Aude die einzigen Berittenen innerhalb einer großen Menge von Fußgängern waren. Die Menschen, die dem langsamen Schritt ihrer Pferde mit unbewegten Gesichternauswichen oder ihnen kurze neugierige Blicke zuwarfen, sahen nicht anders aus als diejenigen außerhalb des Viertels, hatte man sich erst einmal an ihre Kleidung gewöhnt. Der Anteil an schlank gebauten, dunkelhaarigen Männern und zarten, hübschen Frauen mochte im Vergleich zum christlichen Teil der Stadt vielleicht überwiegen und ebenso der Putz der Frauen, der in verschwenderischer Pracht die aufgezwungene Schlichtheit der männlichen Kleidung ausglich, aber ansonsten war die Bevölkerung ebenso bunt gemischt wie anderswo. Philipp sah in die hübschen Gesichter der jungen Frauen und dachte an Dionisia.
»Wohin müssen wir uns wenden?« fragte Aude.
»An ihren Gemeindevorsteher. Ich brauche ein paar Namen und Adressen von ihm.«
»Wißt Ihr, wo er zu finden ist?«
Philipp schüttelte den Kopf. »In der Nähe des Rathauses, vermute ich. Sie haben dort ein Gemeindezentrum mit einer Synagoge, einem Backhaus, einem Bad und was weiß ich noch alles.« Er beugte sich zu einem Mann in mittlerem Alter, der eben ihren Pferden aus dem Weg gegangen war, hinunter und sprach ihn an.
»Könnt Ihr mir den Weg zu Eurem Gemeindevorsteher zeigen?«
Der Mann blickte ihm ins Gesicht, und Philipp zuckte betroffen vor der Ablehnung zurück, die dem Mann aus den Augen sprach. Als hätte er zu laut geredet, schienen sich gleichzeitig alle anderen Passanten um sie herum umzudrehen und sie anzustarren. Aude lenkte ihr Pferd näher an seines heran und machte ein besorgtes Gesicht.
»Ihr wollt zu Parnes Josef?« fragte der Mann mit kalter Höflichkeit.
»Wißt Ihr, wo sein Haus steht?«
Der Mann drehte sich zu zwei anderen Juden um, die neben ihn getreten waren und Philipp mit dem gleichen Mißtrauen musterten. Sie bewegten in einer beredten Geste die Hände: Wir wissen nicht, was von diesem gojim zu halten ist.
Zögernd beschrieb der erste Mann ihm den Weg. »Seid Ihr in offizieller Angelegenheit hier?« fragte er schließlich.
Was ist eine offizielle Angelegenheit? dachte Philipp. Er schüttelte den Kopf. »Ich möchte nur ein paar Dokumente
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