Der Jakobsweg
ich niemals zuvor gesehen. Diese Landschaft ist von einer alten Kultur geprägt und nun hat die ‚Zivilisation’ ihren Einzug gehalten.
Die Regenwolken hängen noch immer wie ein dichter Vorhang am Himmel, als wir uns wieder aufmachen; zunächst entlang der Landstraße. Einige Gemeinden in Kastilien wollten den Pilgern wohl etwas Besonderes bieten und haben neue Wege direkt neben den Straßen angelegt und gepflastert. Aber zum Glück sind die alten Pfade noch vorhanden und ausgeschildert.
In Carrión hat es inzwischen aufgehört zu regnen.
Viele Erwachsene sitzen in den Bars und plaudern miteinander; Kinder laufen lachend durch die Straßen.
Doch Tila wird ziemlich unfreundlich registriert und so beschließen wir weiterzugehen.
Der camino ist einsam, sehr flach und verläuft schnurgerade durch die Landschaft. Am Horizont ist nichts, rein gar nichts zu erkennen. Rechter Hand ahne ich das kantabrische Küstengebirge, die Picos de Europa. Es kommt mir so vor, als würden meine Sinne in dieser wenig beeindruckenden Gegend besonders geschärft. Ich fühle mich weit und durchlässig, einfach großartig.
Bis vor wenigen Minuten hat es noch in Strömen gegossen und jetzt scheint die Sonne. Am Himmel bilden sich augenblicklich spektakuläre Wolkenbilder und gaukeln mir bizarre Landschaften, feuerspeiende Drachen und eine Heerschar Engel vor. Im Spiel des Lichtes wird mir bewusst, wie Stimmungen kommen und gehen, wie unterschiedlich ich manchmal darauf reagiere.
Mal fühle ich mich sehr einsam, innerlich leer, todtraurig oder nahezu ohnmächtig und ein anderes Mal wiederum empfinde ich die Einsamkeit als etwas Erhabenes, sodass ich mich öffnen kann.
Mir wird die Möglichkeit geboten, die Erde in all ihrer Schönheit zu riechen, auf einem Blatt den Regentropfen zu sehen, der wie ein Brillant in der Sonne glitzert. Dieses Gefühl, von Stunde zu Stunde zu leben, nichts erreichen zu müssen, weil alles erreicht werden kann oder schon erreicht ist, wünsche ich mir stets bei meiner Shiatsu-Arbeit. Nichts wollen und ohne Absicht sein. Ich meine, erst dann kann wirklich etwas in der Welt, im Leben bewegt werden.
Unser Nachtquartier finden wir in der Beiz, der Dorfschenke von Calzadilla de la Cueza. Das Zimmer ist gut beheizt, sodass meine Kleidung trocknen kann und auch der Rucksack, der vor Nässe trieft.
13. Wandertag: Calzadilla – Sahagún – 23 km
Frischen Mutes machen wir uns auf den Weg. Heute scheint die Sonne, doch es weht ein ziemlich kalter Wind.
Zunächst geht es die altbekannte N-120 entlang. Wie ich dieses Asphalttreten hasse! Aber zum Glück können wir bald auf einen Feldweg einbiegen.
In einem kleinen Dorf kaufen wir ein. Anschließend suchen wir eine windgeschützte Stelle und legen eine Pause ein. Der Schinken ist frisch und schmeckt vorzüglich. Ein Zeichen dafür, dass ich wieder ganz okay bin.
Vor jedem kleinen Dorf ruft Inka: „Tila, warte, ich muss dich anleinen!“
Recht hat sie, ich fühle mich wesentlich wohler, wenn ich sie an der Leine habe.
Schon von weitem ist das freudige Gekläffe der Dorfköter zu hören. Ob die aber so friedlich sind, wie sie womöglich aussehen, möchte ich bezweifeln. Ohren und Schwanz hoch, so marschiere ich voraus und zeige meine scharfen Zähne. Inka zieht unterdessen die Leine straff und schwingt ihren Wanderstock.
Gemeinsam sind wir unschlagbar und ich bin überzeugt, das wissen diese Kreaturen genau. Jedenfalls werden wir nicht belästigt.
Bei böigem Wind gelangen wir an einen Fluss und fragen uns: links oder rechts? Inka sieht mich unschlüssig an. Bevor ich entscheide, was zu tun ist, kommt ein Traktor angerattert. Der Fahrer ist freundlich und versucht uns mit Händen und Füßen zu erklären, wo die Ortschaft liegt, nach der wir uns erkundigt haben. Doch wir verstehen ihn nicht. Er fährt weiter und Inka schaut ihm eine Weite traurig nach.
Ohne ein Wort zu sagen, rennt sie plötzlich hinter dem Traktor her. Was soll das denn jetzt werden? Inka verblüfft mich immer wieder. Sie schwingt sich auf das Trittbrett des Ungetüms und fährt trockenen Fußes über den Fluss. Dass sie lacht und mir zuwinkt, finde ich hundsgemein.
Ich renne mir zwar die Lunge aus dem Hals, doch auf mich nimmt keiner Rücksicht. Mir steigt das Wasser bis zu den Barthaaren. Was soll’s! Augen zu und durch.
Dass Inka mich am anderen Ufer bedauert, nützt mir überhaupt nichts. Ich bin zum Auswringen nass. Außerdem sehe ich pure Schadenfreude in ihren
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