Der Jakobsweg
nichts ist wichtig!
Seit ich unterwegs bin, betrachte ich die Welt um mich herum mit anderen Augen. Mir fehlt nichts, wenn etwas nicht so läuft, wie ich es gewohnt bin.
Im Gegenteil. Ich sehe darin die Chance, etwas Neues zu erleben. Vieles fällt mir zu, einfach so, und die Reise kommt mir wie ein großes Fest vor.
Es klingt banal, aber heute versuche ich ein Bonbon zu lutschen. Ja, wirklich, ich lutsche es. Normalerweise bin ich ungeduldig und zerbeiße es sofort.
Diesmal bewege ich das Bonbon bewusst im Mund hin und her und lasse es allmählich zergehen. Dass es mir gelingt, führe ich auf meine innere Ausgeglichenheit zurück. Ich staune, wie sahnig es schmeckt und wie lange der Genuss anhält.
Der Regen hat inzwischen aufgehört; die Sonne schimmert durch die dichten Wolken. Kurz vor dem Tagesziel müssen wir einen Bach überqueren. Schuhe aus, Hosen hochgekrempelt, mit meinem Wanderstock taste ich mich voran. Er ist mehr als eine Stütze oder Hilfe. Mein Vater hat ihn für mich gesucht, geschält und zurechtgeschnitten. Deshalb gehört er zu mir.
Sicher erreiche ich das andere Ufer.
In Mansilla de las Mulas zünde ich eine Kerze für Omi, Waltis Mutter, an. Ich glaube, es hilft ihr, wenn ich an sie denke.
In der Herberge, die von einer jungen Frau geleitet wird, herrscht viel Betrieb.
Ich setze mich zu den Pilgern, die vor mir eingetroffen sind. Es sind zwei Spanier, ein Amerikaner und ein Deutscher. Spät am Abend stoßen zwei Italienerinnen zu uns, die mit dem Fahrrad unterwegs sind.
15. Wandertag: Mansilla – Hospital de Órbigo – 39 km
Morgenstund hat Gold im Mund? Treffender wäre vielleicht: Morgenstund hat Blei im Hintern. Ich kann gar nicht beschreiben, wie müde ich bin. Aber Inka drängelt: „Es ist schon beinahe acht! Wir müssen los!“
Ich habe es geahnt. Pausenlos rasen Brummis an uns vorbei, als ob sie an einer Rallye teilnehmen würden. Die Landstraße tötet mir jeden Nerv.
Nach ein paar Kilometern scheint auch Inka die Nase voll zu haben. Sie stellt sich an den Straßenrand und hebt den Daumen. Autostopp. Keine schlechte Idee. Ich hocke mich brav neben sie, rolle mit meinen wunderschönen braunen Augen und prompt hält einer der Brummifahrer an. Inka sieht mich triumphierend an.
Das hält man im Kopf nicht aus. Vermutlich bildet sie sich ein, er hätte ihretwegen angehalten, ihrer blonden Haare oder ihres strahlenden Lächelns wegen. Sie hat wohl vergessen, dass ich jedermann hypnotisieren kann. Na gut, ich lasse sie mal in dem Glauben.
Ganz schön hoch gebaut dieser Lastwagen. Hätte ich nicht gedacht In der Kabine ist es ziemlich eng. Ich bin zwar zwischen Inka und ihrem Rucksack eingeklemmt, aber besser schlecht gefahren als gut gelaufen.
Der Fahrer scheint sehr nett zu sein und schenkt Inka einen Kaugummi... Und was ist mit mir? Wieso gibt es für mich keinen Schinken? Selbstverständlich hat man mich mal wieder vergessen!
Warum Inka unbedingt an der Stadtgrenze aussteigen will, ist mir schleierhaft. Also, ich hätte stundenlang weiterfahren können.
Kurz darauf treffen wir auf die beiden Radfahrerinnen, die wir gestern in der Herberge kennen gelernt haben. Sie schauen uns erstaunt an, da sie uns schon in aller Herrgottsfrühe überholt hatten.
Nachdem Inka erzählt hat, weshalb wir so schnell waren, verabschieden sie sich.
Wir folgen den Jakobsmuscheln, die innerhalb der Stadt wie Gold funkeln, und gelangen zu verschiedenen Sehenswürdigkeiten. Na ja, dies und das ist recht interessant und außerdem kann Bildung ja nicht schaden.
Ich wundere mich, dass wir bei diesem Wirrwarr von Straßen aus der Stadt herausfinden, und bin froh, als wir endlich unser Tagesziel vor Augen haben.
In einer Gaststätte lernen wir beim Abendessen zwei Schweizer kennen, Ruedi und Margret. Oh, wie ich diese Sprache liebe! Nach all dem Lärm auf der Landstraße klingt sie wie Musik in meinen Ohren und ich bekomme ein bisschen Heimweh nach Walti und unserem schönen Sofa, auf dem wir gern unsere Abende verbringen.
Danach gehen wir zusammen in die Herberge.
Ich lege mich gleich hin und träume von meinem Zuhause, dem schönen weichen Bett, dem Garten und meinen Freunden. Ob ich das alles jemals Wiedersehen werde? Na, ich glaube schon, denn schließlich ist ja auch Odysseus nach dem Fall von Troja und seinen Irrfahrten letztlich wieder heimgekehrt. Da ich ebenso tapfer und klug wie dieser Odysseus bin, schlafe ich seelenruhig ein.
Heute erwartet uns eine Riesenstrapaze. An
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