Der Jakobsweg
habe, daß mit Worten bei dem Polen nichts zu erreichen ist, strenge ich alle meine Kräfte an und eile voraus. Bald habe ich einen schönen Abstand zwischen mich und ihn gebracht. Aber ich will diese Bergtour in Ruhe genießen, also verstecke ich mich hinter tropfnassen Ginsterbüschen und warte, bis Pavel vorbeigelaufen ist. Ich lasse ihm einen gehörigen Vorsprung, bevor ich mich wieder auf den Weg mache und freue mich über die Einsamkeit, über die Gewalt des Windes und die wirbelnden Schneeflocken. Da, wie um mich zu belohnen, leuchtet plötzlich die Sonne hinter den dunklen Wolken. Ihre Strahlen brechen sich vielfach in den Wassertropfen und bald wölbt sich ein Regenbogen über den Bergkuppen, die jetzt sichtbar werden. Es ist ein unwirklicher Augenblick: Die tanzenden Schneeflocken und der bunte Regenbogen, die schneebedeckten Bergspitzen und die schwarzen Wolken. Ein Märchen. Ein Traum. Es ist schwer, soviel Schönheit zu ertragen. Ich stöhne, beiße die Zähne zusammen und presse die Fingernägel in die Handballen. Mein Gesicht ist naß vor Tränen, Schnee und Regen. Ich bin glücklich, allein zu sein.
Der arcos de iris, wie Regenbogen auf spanisch heißt, leuchtet noch immer, als ich den Paß auf dem Monte Irago erreiche. Auf dem kahlen Bergrücken befindet sich eine Kapelle und daneben ein Steinhaufen mit einer Holzstange in der Mitte, an deren Spitze ein kleines, einfaches Kreuz befestigt ist, das »Cruz de Ferro«. Den vielleicht sechs Meter hohen und zwanzig Meter breiten Hügel haben die Jakobspilger aufgetürmt. Seit altersher war es Brauch, daß jeder Vorübergehende einen Stein mitbrachte und hier ablegte. Ich betrachte lange die Steine. Sie stammen aus verschiedenen Ländern Europas, denn oft trugen Pilger einen Stein von zu Haus im Beutel bis zum Cruz de Ferro. Geschichten über Geschichten, die Schicksale vieler Menschen sind mitsamt den Steinen in diesem Hügel abgelegt worden. Unterwegs habe ich manchen Stein aufgehoben, der mir gefallen hat. Ich wähle den Glimmerschiefer aus, der wie mattes Silber glänzt. Er stammt von dem Bergrücken in der Nähe von Castrojeriz, dort, wo ich glaubte, fliegen zu können. Entschlossen werfe ich meinen Stein zu den anderen. Nun kann er seinen Teil beitragen zu den Geschichten, die dieser Steinhügel zu erzählen weiß. Der Paß ist eine Wetterscheide, auf der einen Seite herrscht stürmischer Winter, und jenseits davon ist das Wetter sommerlich. Grün öffnet sich das Land unter mir, das das Bierzo genannt wird. Viehweiden, Heideflächen, Ginsterhänge: grün, violett und gelb, schwingt sich die Landschaft in Wellen auf und ab. Hinter mir erheben sich die kahlen Höhenzüge, von Schnee überhaucht. Wie schön ist die Erde und das Leben! Für so einen Tag lohnt es sich, noch nicht gestorben zu sein.
Im Dorf El Acebo raste ich. Es scheint noch bewohnt zu sein, denn auf der lehmigen Dorfstraße begegnen mir zwar keine Menschen, aber ein paar Hühner und eine Schar Gänse. Neben vielen zerstörten Häusern sind einige noch bewohnbar. Das muß einmal ein schönes Dorf gewesen sein. Kleine einstöckige Häuser aus Holz und Stein. Holzstiegen führen außen am Haus in den zweiten Stock. Balkone hängen weit auf den Dorfweg hinaus. Jedoch ist der Zerfall an den meisten Häusern nicht mehr aufzuhalten, den Stiegen fehlen die Treppen, und die Strebepfeiler der Balkone sind morsch. Ich setze mich in einem verlassenen Haus auf den Balkon, der noch trittfest ist. Das Gebäude gegenüber dient als Stall, ein Esel ist dort untergebracht. Bluthänflinge und Hausrotschwänze picken die Krumen auf, die von meinem Brot übrigbleiben.
Der Weg senkt sich immer tiefer hinab in den Talgrund. Eßkastanien und Nußbäume wachsen hier. Wasser sprudelt. Und das helle Grün der Weinstöcke ziert die Hänge. Endlich, nach den vielen sterbenden und toten Dörfern gelange ich in das lebendige Molinaseca. Hier sind die Häuser mit Blumen geschmückt, die Gärten blühen und grünen. Rosen und Wein ranken sich an den Mauern empor. Und es gibt viele Menschen, alte und junge, heiter und freundlich, als seien sie gefeit vor dem bösen Fluch, der die Gebirgsdörfer zerstört hat. Die Kinder laufen lachend und schnatternd hinter mir her, die Frauen winken aus den Fenstern und die Männer sagen, ich solle doch in Molinaseca bleiben, ihre Ortschaft hätte auch ein refugio.
Doch ich möchte bis Ponferrada gehen, weil ich vermute, dort andere Pilger zu treffen. Ich habe das Bedürfnis, mit
Weitere Kostenlose Bücher