Der Jakobsweg
Santiago!« ruft er mir entgegen.
Als ich ihm sage, ich wolle zwei mozarabische Kirchen ansehen, zuerst die in Las Ollas und dann zwanzig Kilometer südöstlich in Peñalba, betrübt sich seine strahlende Miene. »Schade, es wäre lustiger gewesen, gemeinsam zu pilgern.« Auch mir fällt gerade heute das Alleinsein schwer und so biete ich spontan an: »Komm doch mit! Es lohnt sich bestimmt, den Umweg für die zwei Kirchen zu machen.«
Er verzieht schmerzlich sein Gesicht, zeigt auf seine Füße und klagt: »Ich habe sooo große Blasen und zähle die Schritte bis Santiago.«
»Vielleicht hole ich dich bald wieder ein. Ich werde mich beeilen«, verspreche ich.
Das Sträßchen führt steil aufwärts. Mir wird heiß und mein Atem geht rasch.
Seit gestern abend, nach der Wanderung durchs Gebirge mit seinen toten Dörfern, spüre ich ein starkes Bedürfnis nach Gesprächen, nach Kontakt mit Menschen. Tommaso wäre jetzt ein guter Wandergefährte für mich gewesen. Mir gefiel das spontane Wesen des Italieners. Sein jungenhaftes Gesicht strahlte Offenheit und Fröhlichkeit aus.
Ich gelange in das Dorf Las Ollas. Kleine Katen umgeben einen Platz. Dort, an der nördlichen Front des Platzes, das muß sie sein - die mozarabische Kirche. Es ist ein bescheidenes Kirchlein, ein einschiffiges Langhaus mit einem runden Chor. Trotz ihrer Kleinheit wirkt sie wuchtig und schwer. Das Mauerwerk ist stellenweise ausgebessert. Die Tür ist verschlossen. In einer Bar an der Ecke erkundige ich mich, wer den Schlüssel habe. Ein Junge wird zur Nachbarin geschickt. Sie eilt sofort herbei und öffnet für mich die Tür. Ich trete in einen düsteren Raum, nur durch schmale Schlitze fällt etwas Licht. Als sich meine Augen an das Halbdunkel gewöhnt haben, sehe ich einen außergewöhnlichen Altarraum. Unverputzte Mauern aus grob behauenen, unregelmäßigen Steinen bilden die Wände. Algen lassen das Gemäuer grün schimmern. Im Halbrund des Chores sind Hufeisenbögen in die Wand eingelassen. Gleichmäßig. Streng. Archaisch. Mir ist, als würde ich unvermittelt vor dem Eingang in die Vergangenheit stehen. Doch die Durchlässe zwischen den Bögen sind geschlossen.
Lange betrachte ich diesen Altarraum und versuche mir die Menschen vorzustellen, die damals diese Kirche gebaut haben, die hier gebetet, gefleht, gehofft und geweint haben und glaube, daß mir diese Menschen gar nicht so fremd sind, daß ich wie sie denken und fühlen würde, wenn ich in ihrer Zeit geboren worden wäre.
Als ich wieder ins Tageslicht trete, bleibt die Vergangenheit im Dämmerdunkel hinter mir zurück und ich mache mich erneut auf den Weg nach Ponferrada. Um zu meinem nächsten Ziel, nach Peñalba, zu gelangen, muß ich Ponferrada wieder durchqueren. Danach führt eine schmale, kurvenreiche Straße südwärts in die Berge. Bevor diese Berge steil ansteigen, ist die Landschaft in sanfte Wellen gegliedert, die mit Weinstöcken bepflanzt sind.
Eines der wenigen Autos hält neben mir. Der Fahrer sieht gut aus. Ob er mich zu einem Kaffee einladen dürfe? Ich bin unschlüssig. Noch immer ist mein Bedürfnis nach Unterhaltung ungesättigt, und das ist nun wirklich mal ein Spanier, der mir gefallen könnte. Ein Kaffee wäre auch nicht schlecht und eine Rast hätte ich schon lange nötig. Aber da ist das Auto. Als Pilger darf ich nicht fahren! Ich habe diesen Vorsatz während der Wanderung so verinnerlicht, daß ich leider ablehnen muß. Erst als das Fahrzeug außer Sicht ist, fällt mir ein, ich hätte ja einsteigen und mich nach dem Kaffeetrinken hier wieder absetzen lassen können. Kaum habe ich das gedacht, kommt der Wagen wieder angebraust. Der junge Spanier beugt sich aus dem Fenster. Verdammt gut sieht er aus! Erwartungsfroh bin ich bereit mitzufahren. Da sagt er, er sei nur deshalb zurückgekommen, um sich für die Belästigung eben zu entschuldigen und sich zu bedanken, denn es stimme ihn glücklich, daß es heutzutage doch noch unverdorbene Frauen gebe, daran habe er schon gar nicht mehr geglaubt. Sagt es, strahlt, jung und verführerisch, gibt Gas und veschwindet. Verdutzt schaue ich ihm hinterher.
Die Straße steigt nun steil an, und der Asphalt ist hart. Die Füße ermüden schneller als auf den weicheren Feldwegen. Ich raste in immer kürzeren Abständen und bald ist mir klar, daß ich bis zum Abend Peñalba nicht erreichen werde. Um ein Nachtlager zu finden, folge ich einem Pfad seitwärts in die Weinberge. Welch eine Erleichterung für die Füße, auf
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