Der Jakobsweg
gegangen und sah auf dem Baum einen unscheinbaren Vogel sitzen. Ohne leuchtende Farben, statt dessen mit graugrünem Kopf und rostbraunem Bauch, nur die gelbgrüne Kehle, der gelbe Bartstreif und der hellgelbe Augenring fielen mir auf. Der Vogel flog weg, bevor die anderen Studenten kamen. Das war der erste Ortolan, den ich gesehen habe.
Diesmal bleibt der Ortolan sitzen und singt sein melancholisches Lied. Groß und dunkel sind seine Augen, umschlossen von einem hellen Ring.
Ich komme durch zwei kleine Orte, Santa Catalina de Somoza und El Ganso. Die Häuser sind aus Bruchsteinen aufgeschichtet und die Dächer mit Stroh gedeckt. Die Türen verschlossen, das Holz alt und von der Sonne gebleicht. Dörfer wie aus einer anderen Welt. Hier scheint keiner mehr zu wohnen. Erst am Ortsende von El Ganso treffe ich auf drei alte Männer. Sie sitzen am Wegesrand, in dunkler Kleidung und mit schwarzen Hüten auf den Köpfen. Ihre Gesichter zeigen eine stille Zufriedenheit mit sich und ihrem Leben.
Um mit ihnen ins Gespräch zu kommen, frage ich, ob sie aus El Ganso sind.
»Natürlich, Mädchen, woher sollten wir sonst wohl kommen?« Sie lachen gutmütig und ihre alten Gesichter runzeln sich in unzähligen Falten.
»Wovon leben die Menschen hier im Dorf?« frage ich.
Sie lachen wieder und antworten: »Ob du es glaubst oder nicht, Schöne, wir leben von Luft und Liebe.«
Der mittlere der uralten Männer fragt mich: »Nun sag uns mal, meine Hübsche, wo ist denn dein novio, Verlobter?«
»No tengo novio, ich habe keinen Verlobten.«
Heiteren Sinnes legen sie zum Spaß ihre Gesichter in betrübliche Falten: »Oh, du Arme, du hast keinen novio. Wie traurig und kalt müssen da die Nächte für dich sein.«
Immer höher steigt der Weg. Fünf magere Kühe traben den Hang herunter. Hinter ihnen geht eine Frau. Sie ist in schwarze Gewänder gehüllt und ihr Gang ist ein königlich stolzes Schreiten. Die Frau erscheint mir überirdisch schön. Sie ist groß und schlank. Schwarze Haare, von einem Tuch bedeckt, umrahmen ihr ebenmäßiges Gesicht, in dem glutvolle Augen brennen. Ich möchte die fremdartige Frau länger anschauen, etwas über sie erfahren, doch beeindruckt von ihrer exotischen Schönheit, weiß ich nicht, wie ich sie ansprechen könnte.
So geht sie an mir vorbei, stolz und frei, mit langen wiegenden Schritten wie eine Wüstennomadin. Da erst fällt mir ein, was ich gelesen habe: Bei den Bewohnern der Maragatería soll es sich um Nachfahren eines Berberstammes handeln, die einst mit der arabischen Invasion ins Land kamen.
Ein Unwetter zieht auf. Es geht sehr schnell. In wenigen Minuten verfärbt sich der Himmel dunkelviolett. Der Wind stemmt sich mir wild entgegen. Kein Baum, nirgendwo ein Unterschlupf. Ich hole meine Regenkleidung heraus. Statt Regen prasseln kirschgroße Hagelkörner vom Himmel. Weißen Murmeln gleich prallen sie von der harten Erde und springen und hüpfen und rollen. Hinter einem Stein gehe ich in Deckung.
Endlich hört es auf zu hageln und regnet nur noch. Als ich in Rabanal del Camino ankomme, regnet es immer noch. Deshalb beschließe ich, hier zu übernachten, auch mit der Hoffnung, das schöne Beduinenmädchen noch einmal zu sehen. Aber ich treffe niemanden, Rabanal scheint wie ausgestorben zu sein. Vor dem Regen geschützt setze ich mich an die Kirchentür und hole die Verpflegung aus dem Rucksack, die ich im malerischen Dorf Castrillo de Polvazares heute morgen gekauft hatte.
Ein Mann biegt um die Ecke und kommt die Dorfstraße entlang auf die Kirche zu. Die Kapuze des Regenmantels hat er weit ins Gesicht gezogen. Triefend vor Nässe bleibt er vor mir stehen. Er fragt, ob ich wüßte, wo das refugio sei. Also auch ein Pilger, denke ich. Er kann wenig spanisch, und so dauert es eine Weile, bis ich verstehe, daß er aus Polen stammt. Wo er angefangen habe auf dem Pilgerweg, will ich wissen.
»In Polen«, antwortet er.
»Wie denn? Von Polen aus bist du zu Fuß gegangen?« frage ich entgeistert.
»Ja, alles gelaufen, von Polen.«
Ich kann es nicht glauben, frage: »Wann hast du angefangen?«
»Vor fast einem Jahr, genau am 2. August, bin ich von zu Hause weggegangen. Sieben Länder habe ich durchquert: Polen, Tschechoslowakei, Bulgarien, Ungarn, Schweiz, Frankreich und jetzt Spanien.«
Nein, so was! Da bin ich ja auf einen ganz besonderen Pilger gestoßen. Schade, daß er kaum Spanisch spricht. Ich würde ihn gern so vieles fragen. Pavel ist Dolmetscher, außer polnisch beherrscht er
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