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Der Jakobsweg

Der Jakobsweg

Titel: Der Jakobsweg Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Carmen Rohrbach
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verabschiede mich von der Frau, und sie hackt weiter ihr Feuerholz. Nachdenklich gehe ich bergab. Denke an die zwölf alten Menschen, zehn Frauen und zwei Männer, die, auf sich allein gestellt, in der rauhen Gebirgswelt ihre Existenz vor den Einflüssen des Fortschritts bewahrt haben. Das Bild dieses Dorfes, wie ich es in der Morgenfrühe erlebte, trage ich in mir, ich fühle mich bereichert und bin froh, daß ich Peñalba gesehen habe.
    Abwärts bewältige ich die Strecke viel schneller, bald sehe ich wieder die Ebene des Bierzo. Über Ponferrada hängt drohend eine rußschwarze Wolke. Denn Ponferrada ist nicht nur die Altstadt mit seinen Türmen und der Templerburg, Ponferrada ist vor allem eine Industriestadt mit riesigen Schlackenhalden und rauchenden Hochöfen, ein Zentrum der Kohlenförderung und Eisenverarbeitung. Wieder prallen für mich, wie so oft während der Pilgerwanderung, Vergangenheit und Gegenwart direkt aufeinander. Eben noch konnte ich gesunde Gebirgsluft atmen und sah Menschen, die sich in die Natur einfügen und von ihr leben, ohne sie zu zerstören, und nun hier die Industriestadt, die Schmutz und Abfall produziert und die Erde ausgeraubt und verbrannt zurückläßt.
    Mühsam ist die Strecke durch Ponferrada, vorbei an hundert Meter hohen Kohlenrampen, durch ein Gewirr lärmerfüllter Straßen und nüchterner Hochhäuser, bis ich endlich aus der Stadt herausfinde. In dem Vorort Fuentes Nuevas auf einem Kirchturm steht ein vereinsamter Storch. Sein Gefieder ist schmutzigbraun gefärbt. Kraftlos hängt sein Kopf herab. Ein kranker Storch, Opfer der Umweltverschmutzung.
     

22 Nach Villafranca del Bierzo
     
    In besonders guter Stimmung, leicht und beschwingt, erwache ich morgens an meinem 30. Wandertag. Ich habe wieder draußen geschlafen, unter einem Apfelbaum. Eine frische Morgenbrise belebt mich angenehm. Ich habe das Gefühl, als würde Sekt in meinen Adern perlen. Ich berste vor Tatendurst und Wanderlust.
    Das Bierzo ist das flache Land zwischen den zwei Gebirgszügen, den Montes de León mit dem Rabanalpaß, die jetzt hinter mir liegen, und der vor mir emporragenden Sierra de Aneares mit dem Cebreiropaß, dem Grenzgebirge zu Galicien.
    Die Ebene ist schmal, kaum vierzig Kilometer breit. Grünes, fruchtbares Land. Ein herrlicher Sommertag! Die Sonne wärmt und läßt die Früchte reifen. Die Äste der Kirschbäume hängen schwer mit saftstrotzenden dunkelroten und schwarzen Kirschen. Apfelhaine wechseln sich ab mit Weinbergen und gelben Kornfeldern. Eine Landschaft, die im Elysium liegen könnte. Es sind Bilder wie aus meiner Kindheit. So sah es auch in Freyburg aus, wo ich aufwuchs. Zwar gab es keine schneebedeckten Gebirge im Osten und Westen, aber auch Weinberge, Apfelplantagen und Kirschbäume. Und Weintrauben, Äpfel und Kirschen waren die Früchte, nach denen ich als Kind nur die Hände auszustrecken brauchte. Damals gab es in Deutschland noch bunte Blumenwiesen mit Margeriten, Kuckuckslichtnelken und Schmetterlingen wie hier im Bierzo.
    Ich sehe meinen Vater, mit kurzen Hosen. Es ist Sommer. Er hat sich das Stück einer alten Wäscheleine um den Bauch gebunden. Am anderen Ende hängt der voluminöse Korbkinderwagen. Im Wagen liegt mein Bruder Ingo, damals noch ein kleines Baby. Der Vater, der sich wie ein Zugpferd mit der Wäscheleine vor den Kinderwagen gespannt hat, zieht ihn den Berg zur Neuenburg hinauf. Mutter versucht den Wagen im Gleichgewicht zu halten. Meine Schwester Marlis und ich schieben von beiden Seiten, so kräftig wir können. Wie ein einziger langer Sommertag erscheint mir die Kindheit im Rückblick, als hätte ich die kalten Jahreszeiten verschlafen.
    Auf Feldwegen gehe ich durch lichtgrüne Weinberge. Berauschend schön ist das grüne Bierzo zwischen den zwei Gebirgszügen. Am Nachmittag erreiche ich auf dem Pfad durch die Weinberge Villafranca del Bierzo. Vor der Stadt liegt die Santiagokirche direkt am Wege. Auf den Portaltreppen sitzen zwei schwarzbärtige Spanier aus Madrid. Sie fahren mit Fahrrädern nach Compostela. Heute früh waren sie in Astorga gestartet, haben die Montes de Leons bei Sonnenschein überquert, sind durch das grüne Bierzo geradelt und wollen bis zum Abend am Cebreiropaß sein.
    Die Entfernungen schrumpfen, wenn man mit dem Fahrrad unterwegs ist, und so auch die Erlebnisse. Ich werde für die Strecke Astorga-Cebreiro, die sie an einem Tag durchradeln, drei Tage benötigen. Aber während dieser drei Tage sehe ich mehr und lebe intensiver.

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