Der Jakobsweg
am Weg nieder. Nirgendwo ein trockener Fleck. Zu meinen Füßen bilden sich Pfützen. Von oben tropft Wasser zwischen den Kragen des Regenumhanges und sickert kalt den Rücken hinunter. Also weiter!
Es dunkelt, und noch immer weiß ich nicht, wohin der Pfad führt. Ich beschließe, ihm so lange zu folgen, bis ich eine Ortschaft erreiche oder, wenn er sich spurlos in den Bergen verlieren sollte, eine Naßübernachtung auszuprobieren. Denn der Biwaksack schützt zwar vor Regenspritzern, aber nicht vor sintflutartigen Wolkenbrüchen.
Der Pfad vor mir ist kaum noch zu erkennen. Ich stolpere über eine nasse Wurzel, fange mich nur mit Mühe. Der Weg steigt manchmal steil an, dann fällt er wieder fast senkrecht ab. Ich kann in Dunkelheit und Regen nichts erkennen, aber es muß ein schluchtenreiches Gebirge sein, das ich lieber bei Tageslicht durchwandern würde. Aber die unbehagliche Aussicht auf eine Übernachtung im strömenden Wasser treibt mich vorwärts. Noch habe ich Hoffnung, eine Ortschaft zu erreichen. Dann endlich, nach einem stockfinsteren Hohlweg, in dessen Schlamm ich bis zu den Knien wate - die Schuhe habe ich ausgezogen, die Hosenbeine hochgekrempelt - heben sich dunkel die Dächer eines Dorfes gegen den Nachthimmel ab. Niedrige, strohgedeckte Hütten, alles still und dunkel. Ich traue mich nicht, irgendwo anzuklopfen und die Bewohner aus dem Schlaf zu reißen. Unschlüssig lehne ich mich an eine kleine Mauer, so daß der Rücken vom Gewicht des Rucksacks entlastet ist. Im Haus gegenüber öffnet sich eine Tür, eine Frau kommt heraus. Sie sieht mich trotz der Dunkelheit und winkt mich heran. Ich bitte sie um einen Schlafplatz in einer Scheune oder einem Schuppen, doch sie lädt mich zu sich ins Haus ein.
Ihr Haus besteht aus einem einzigen dunklen Raum aus unverputzten Feldsteinen mit offener Feuerstelle, einem Hängeregal, wo sauber das Geschirr aufgereiht ist, einem großen Tisch und einem Bettgestell. In einem auf halber Höhe abgeteilten Vorschlag quieken Schweine, und drei Katzen schleichen durch die dunkle Wärme. Die Frau legt Holzscheite in das glimmende Feuer, das bald hell aufleuchtet. Ich bin froh, die nasse, verschmutzte Kleidung ausziehen zu können. Sie wird um das Feuer mit Stöcken aufgestellt, wie an einem Lagerfeuer. Die Frau bringt zwei Speckscheiben, die sie zum Rösten direkt in die Flamme legt. Mit einem Glas Rotwein ist der scharf angebratene Speck eine Delikatesse. Der Rauch des Holzes hat ihm eine köstliche Würze verliehen. Später bekomme ich noch eine dicke, wohlschmeckende Gemüsesuppe. Die Wärme, das Essen und der Rotwein machen mich schlagartig müde. Schwer sind die Beine. Wie viele Kilometer mögen es gewesen sein? Ich weiß es nicht. Ich weiß nur, daß ich heute fünfzehn Stunden fast unentwegt gelaufen bin.
Die Frau, sie nennt sich Antonia, rückt eine Bank vor das Feuer. Da sitzen wir, beleuchtet vom rötlichen Feuerschein. Die Katzen schnurren um unsere Beine. Ab und zu klingt das Grunzen der Schweine aus dem Verschlag. Das Feuer flackert und knistert. Ich habe das Gefühl, als sei ich in eine ferne Vorzeit versetzt. So ähnlich muß es in den Behausungen der Kelten und Iberer gewesen sein.
Antonia erzählt, daß sie allein sei. Zwar hat sie erwachsene Kinder in diesem und in den Nachbardörfern. Doch ihr Mann sei vor drei Wochen gestorben, und seinen Verlust wird sie nie überwinden können. Sie klagt nicht, sondern sagt es als Feststellung, die bitter, aber nicht zu ändern ist.
»El fue tan bueno, un hombre bueno! El hombre mas bueno del mundo! Er war so gut, ein guter Mann! Der beste Mann der Welt!« sagt sie traurig. »Wir haben so schöne Jahre miteinander verbracht. Mein Leben ist sinnlos ohne ihn. Doch wenn wir schon nicht gleichzeitig sterben konnten, so war es besser, daß er zuerst ging. Ich ertrage das Leid eher, aber ich warte sehnsüchtig auf die Stunde, ihm zu folgen.«
Ich lege den Schlafsack auf den festgestampften Boden. Eine der drei Katzen schmiegt sich an meine Seite.
Ich schlafe lange. Das Haus hat nur winzige Fensterluken. Erst als Antonia die Tür öffnet und Licht hereinflutet, erwache ich. Blauer Himmel! Sonne! Als sei das Unwetter gestern ein Spuk gewesen. Antonia erklärt mir den Weg nach Cebreiro.
»Drei Stunden, dann bist du dort«, sagt sie leichthin. Sie weiß ja nicht, wie schwer der Rucksack ist. Außerdem muß ich oft stehenbleiben und die Aussicht genießen. Berge, flammend gelb von Ginsterbüschen. Tiefe Einschnitte,
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