Der Jakobsweg
Das Fahrrad, auch wenn es mit Körperkräften bewegt wird, ist der Gegenstand, der uns bereits der Umwelt entfremdet. Nur wenn man mit den Füßen auf dem Erdboden in Meterdistanzen vorwärtsgeht, lernt man die tatsächlichen Entfernungen kennen. Unsere Sinnesorgane sind an die Langsamkeit des Gehens angepaßt. Nur schrittweise sind wir fähig zu erfassen, was um uns herum existiert. Benutzt man Hilfsmittel zur schnelleren Bewegung, können die Sinne nicht mithalten, die Abstände fehlen, es entsteht ein verwischtes Bild, dessen Details man nicht wahrnehmen kann. Mauricio, der eine der beiden Bärtigen, die für mich wie Brüder aussehen, flickt den Schlauch an Franciscos Hinterrad. Sie hätten erst dreimal Platten gehabt, sagt er. Mauricio sei verantwortlich für die Räder. Dafür ist es Franciscos Aufgabe, die richtige Route zu finden. Er blättert eifrig im Pilgerführer und hat die Landkarte ausgebreitet vor sich liegen.
Mauricio und Francisco radeln davon. Nun kann ich in Ruhe die Kirche betrachten. Sie hatte im Mittelalter große Bedeutung. Sie galt als Schwesterkirche der Santiagokirche in Compostela. Pilger, die aus gesundheitlichen Gründen nicht weiter wandern konnten, bekamen schon hier die Generalabsolution. Die Kirche hat zwei Eingänge und noch heute heißt das Seitenportal puerta del perdón. Dieses Portal ist trotz der verwitterten Steine noch immer ein besonders eindrucksvolles, romanisches Bauwerk aus dem 12. Jahrhundert. Vielleicht war es ursprünglich ohne Portalschmuck aufgestellt worden und erst später erhielt ein durchreisender, unbekannt gebliebener Künstler den Auftrag, es auszuschmücken. Die Figuren reichen über zwei, drei, sogar vier Steinquader, ganz so, als seien die Steine zuerst zusammengefügt und nachträglich mit Darstellungen versehen worden. Auf den stark verwitterten Kapitellen der linken Säulenreihe erkenne ich die Abbildung der drei Könige aus dem Morgenland. Auf dem Kapitell daneben ist der gekreuzigte Christus zu sehen. In die Kapitelle der rechten Seite sind Harpyen, Löwen, Pflanzen und Ornamente eingemeißelt.
Das Tor der Verzeihung, puerta del perdón, wird nur im Heiligen Jahr geöffnet, immer dann, wenn der Tag des Jakobus, der 25. Juli, auf einen Sonntag fällt.
Wieder weiche ich eine Stunde vom Pilgerweg ab nach Süden, um auch noch die Kirche San Estéban in Corullón kennenzulernen. Außerhalb der Ortschaft, am Hang, umgeben von rotbehangenen Kirschbäumen und alten Maronenbäumen, liegt die 1086 geweihte kleine, einschiffige Kirche. Mich beeindrucken am meisten die Steinpaletten an den Dachsparren. Es sind archaische Menschendarstellungen, Gesichter wie Masken. Vielleicht hatten diese Figuren Wächterfunktionen? Sollte ihr Blick böse Mächte bannen? Im Mittelalter glaubten viele Menschen noch an die Bildmagie, an den Schutz vor dem Bösen durch Abbildungen.
23 Von Villafranca bis Cebreiro
Die gelben Farben Kastiliens sind endgültig verschwunden. Alles ist nun grün, üppig grün, und tropft. Der Weg ist ein dahineilender Bachlauf. Nebelfetzen, Wolkenschleier verhängen die Sicht. Die durchnäßten Schuhe quietschen bei jedem Schritt, und aufgewärmtes Wasser quillt heraus, um neues, kaltes einzulassen. Ich bin erschöpft, aber ich muß weiter, ich muß den richtigen Weg wiederfinden. Ich habe mich in den regennassen Bergen Galiciens verirrt. Um mich nicht von der Angst überwältigen zu lassen, denke ich zurück an den Beginn meiner heutigen Wanderung:
Es hatte so harmlos begonnen. Aufgewacht war ich unter dem dunkelgrünen Dach eines Nußbaumes, in der Nähe der Kirche San Estéban bei Corullón. Statt blauem Himmel waren graue Regenwolken zu sehen gewesen. Die Luft war schwer vor Feuchtigkeit. Ich wußte, daß ich heute das galicische Gebirge überqueren mußte und bedauerte, wegen des schlechten Wetters wieder keine weite Sicht von den hohen Bergen zu haben. Schon auf den Pässen in den Pyrenäen und in den Montes de León hatte es geregnet und hatten Wolken die Aussicht versperrt. Aber das Unwetter heute übertrifft die anderen. Doch als ich mich am Morgen auf den Weg machte, ahnte ich noch nicht, wie schlecht das Wetter werden würde.
Anfangs verlief der Pilgerweg auf der Landstraße durch ein enges Tal den Fluß Valcarce entlang. Maronen und Nußbäume säumten die Straße. Obwohl noch früh am Morgen, war es schon schwül, und nach nur drei Wanderstunden war ich bereits erschöpft. In Trabadela kam ich an einer Gaststätte vorbei, ich
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