Der Jakobsweg
der Tür. María bittet mich, noch einen Moment zu warten, sie will aus ihrem Garten eine Blume für mich holen. Da sehe ich auf dem Weg vor dem Haus einen Mann vorbeigehen. Rucksack und Wanderstock kennzeichnen ihn als Pilger. Sein Blick elektrisiert mich.
»Tu eres la alemana, que se llama Carmen? Bist du die Deutsche, die Carmen heißt«, fragt er.
»Ja, wieso?« erwidere ich total verblüfft.
»Na, endlich habe ich dich eingeholt! Alle erzählen sie von dir, Pavel, Tommaso, Atze. Bis gleich, ich warte auf dem Paß auf dich!« sagt er und marschiert bergan.
Es muß am Rotwein liegen. Mir ist leicht schwindlig und mein Herz schlägt schnell. Warum ist er weitergegangen? Er hätte doch warten können. Bis zum Paß ist es noch wer weiß wie weit. Er hatte so eigenartige Augen. Aus welchem Land mag er stammen? Er hat Spanisch gesprochen, wie auf dem Pilgerweg üblich. Er war groß, schlank, schmales Gesicht, dunkelblonde Haare, nichts Auffallendes außer den Augen. Grün müssen sie gewesen sein oder hellbraun, auf jeden Fall magnetisch. Ich schreite kräftig aus, vielleicht kann ich ihn einholen.
Eine traumhaft schöne Landschaft, ein freier Bergrücken mit Ginster und Fingerhutstauden bewachsen, tief eingeschnittene Täler mit grünen Wiesen, Kastanien und Erlen an den sich aufschwingenden Höhen.
Nach einer Stunde erreiche ich Cebreiro, den ersten Ort auf galicischer Seite, denn auf dem Gebirgskamm verläuft die Provinzgrenze. In Cebreiro stehen die letzten keltischen Häuser, die pallozas, niedrig, fensterlos, aus Bruchsteinen errichtet, mit runden Mauern und einem Kegeldach aus trockenem Ginster und Heidekraut. Auf offenem Feuer wurde gekocht, einen Schornstein gab es nicht, und in einem Verschlag waren die Tiere unterm gleichen Dach untergebracht. Aber hier in Cebreiro ist in einem palloza das Museum für galicische Volkskunst, in dem zweiten eine Unterkunft für die Pilger, und die anderen dienen nur noch als Ställe.
Aber wo sind sie, die Pilger? Endlich finde ich sie. Sie sitzen an langen Holztischen, trinken und essen. Es ist ein rustikales Gasthaus mit Holzbalkendecke und dicken Steinmauern. Da sind viele Leute, die ich nicht kenne, denn nach Cebreiro führt nicht nur der Fußweg, sondern auch eine Straße. Tommaso sieht mich und winkt. Er will wissen, ob es sich denn gelohnt habe, nach Peñalba zu gehen.
»Das ist die Carmen«, stellt er mich den anderen vor. »Ihr genügt der Pilgerweg nicht, sie muß noch alle möglichen Umwege machen und alte Kirchen aufsuchen.«
Mit am Tisch sitzen fünf Belgier, die mit einem Auto und Fahrrädern auf Tour sind. Abwechselnd fährt einer das Auto, und die übrigen vier radeln. Zwei Franzosen, auch mit Fahrrädern, und drei Spanier mit Auto. Zu Fuß unterwegs sind nur Tommaso, ich und der Grünäugige. Ja, der Pilger, der mich in El Faba angesprochen hatte, sitzt mit am Tisch. Er hat tatsächlich grüne Augen mit einem goldenen Schimmer. Er heißt Sergio und ist Spanier.
Atze und Pavel waren ebenfalls hier, aber sie wären schon weitergewandert, erfahre ich.
Wir besichtigen zusammen die Kirche. Sie ist aus Bruchsteinen errichtet wie die Häuser. Klein duckt sie sich vor dem Gebirgswind an den Erdboden. Der Eingang ist von einer Vorhalle überdacht. Der Turm ragt nur wenig über das Dorf hinaus. Die Kirche ist um 800 erbaut worden. Die rechteckigen Apsiden und das Langhaus sollen noch von diesem frühen Bau stammen. Die Außenmauern der Seitenschiffe, die Westfront mit Kapelle und Taufstein stammen aus dem 13. Jahrhundert. Obwohl die Kirche unzerstörbar scheint mit ihren meterdicken Mauern, war sie schon fast in sich zusammengestürzt, bevor man sie 1962 wieder instand setzte, erzählt uns der Pfarrer. Stolz zeigt er uns in der dreischiffigen Kirche eine Muttergottesskulptur aus dem 12. Jahrhundert. Sie trägt eine juwelengeschmückte Krone auf dem Kopf. Auf ihren Knien sitzt ein Jesuskind. Es schaut auf den Betrachter und hebt segnend die Hand. Es ist keine in sich versunkene Andachtsskulptur, sondern ganz auf Wirkung, auf Ansprache ausgerichtet. Und die Jungfrau Maria ist nicht als liebliches, unschuldiges Wesen dargestellt, eher als reife, selbstbewußte Frau, die mitträgt, wofür ihr Sohn ausersehen ist. Die Gesichtszüge dieser Holzskulptur erinnern mich an María, der ich in El Faba begegnet bin.
Der Pfarrer zeigt uns einen Silberbecher aus dem 12. Jahrhundert und berichtet von einem Wunder, das sich in dieser Kirche zugetragen haben soll: Ein Mönch,
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