Der Jakobsweg
kein glühender Anhänger des Glaubens, sondern ein Zweifler und Spötter, hielt dessenungeachtet die Messe. Da kam ein Bauer aus der weitabgelegenen Siedlung Barxamaior in die Kirche. Er hatte sich durch Schnee und Sturm gekämpft. Der Mönch machte sich über den erschöpften Mann lustig: »Was ist er doch für ein dummer Kerl, tut sich solche Beschwerlichkeiten an, nur wegen so einer unnützen Sache wie einer Messe. Wäre er lieber bei Weib und Kind geblieben!«
Als der Mönch das gesagt hatte, verwandelte sich die Hostie in Fleisch, und im Kelch befand sich Blut. Der Mönch erschrak sehr und wurde durch das Wunder bekehrt. Das Ereignis wurde weitererzählt, und viele Pilger, die davon hörten, berichteten bei ihrer Heimkehr von dem eucharistischen Wunder in Galicien. In der Parzivalsage taucht es als Gralswunder wieder auf.
Während die anderen in die Gaststätte zurückkehren, bleibe ich noch eine Weile draußen.
Der Wind faucht über den Paß. Im Westen, dort, wo sich die Sonne senkt, liegt das Meer. Noch ist es nicht sichtbar. Bergrücken staffeln sich hinab in die Ebene von Galicien. Dunkelviolett färbt sich der Himmel, ein letzter heller Schein schimmert dort, wo die Sonne untergegangen ist. Es ist nicht mehr weit bis Santiago, nur noch 143 Kilometer, das ist weniger als die Strecke nach Silos hin und zurück. Santiago de Compostela! Wie wird es sein, wenn ich nach den vielen Wandertagen dort ankomme? Auf einmal freue ich mich auf das Ziel. Vielleicht, weil ich von dem heutigen Tag so reich beschenkt wurde. Da war Antonia, die mich nachts in ihr Haus holte. Dann die Wanderung durch das sommerliche Gebirge, erfüllt vom Duft des Ginsters. Die Begegnung mit María in El Faba. Und dann, als ich schon vollkommen glücklich war, als ich mit Freude im Herzen meines Weges ziehen wollte, kam Sergio. Gerade hatte ich mein inneres Gleichgewicht gefunden, war in Übereinstimmung mit mir selbst, da erschien er! Als ich ihn sah, empfand ich die Begegnung als Fügung. Ich wußte sofort: Auf ihn habe ich gewartet! Das Gefühl mußte sich nicht entwickeln, es hatte bereits in mir existiert. Noch nie habe ich mich auf diese blitzartige Weise verliebt. Von diesem Sergio weiß ich nichts, und doch wünschte ich - sogleich, sofort, für immer mit ihm zusammensein zu können. Es ist, als wären wir von Anbeginn unseres Lebens aufeinander zugesteuert, um uns hier am Cebreiro, dem letzten Paß vor Santiago, zu treffen.
Als ich jedoch in die Gaststätte trat und ihn am Tisch inmitten der anderen fand, wurde ich ernüchtert. Er ist nicht das, was seine Augen versprochen haben. Aber vielleicht ist sein Wesen noch eingesponnen, verpuppt, und ich muß nur Geduld haben, bis es wie ein Schmetterling die starre Hülle durchbricht und die Flügel entfaltet.
Inzwischen ist es Nacht. Die violetten Wolken haben sich schwarz gefärbt. Keine Sterne, kein Mond. Ich gehe zurück in die Gaststätte, bleibe aber nicht lange. Ich brauche Ruhe zum Nachdenken. Im Schein der Taschenlampe finde ich das refugio. Im Dunklen wirkt das Keltenhaus noch urtümlicher. Das Kegeldach hängt so tief, daß ich es mit der Hand berühren kann. Die Holzbohlentür ist niedrig. Ich muß mich beim Eintreten bücken. Innen ist ein ellipsenförmiger Raum, der sich nach oben weitet. Die starke Balkenkonstruktion, die das schwarze Pflanzendach trägt, ist sichtbar. Auf einer Seite des Raumes ist Stroh aufgeschüttet, dort rolle ich meinen Schlafsack aus. Ich höre nicht mehr, wie die anderen Pilger kommen und sich auch zum Schlafen niederlegen.
Spärliches Licht fällt durch eine Mauerluke. Undeutlich sehe ich die Zeiger auf der Armbanduhr - schon acht Uhr! Ich habe wegen der Dunkelheit, die in dem fensterlosen Raum herrscht, wieder länger als sonst geschlafen. Links und rechts neben mir liegen die anderen in ihren Schlafsäcken. Leise stehe ich auf.
24 Von Cebreiro bis Portomarín
Es regnet! Als ich die knarrende Holztür langsam öffne, schlägt mir als erstes der Wind wie ein nasser Waschlappen ins Gesicht. Es ist ein Schock! Nach dem gestrigen Sonnentag hatte ich heute mit ebenso schönem Wetter gerechnet. Regen und Nebel verwandeln das Dorf. Die Nässe tropft von den Dächern, die Bruchsteinmauern wirken zyklopenartig. Die Kirche stemmt sich den Windböen entgegen. Nur als schemenhafter Umriß ist der Turm erkennbar. Die Tür ist abgeschlossen. Ich hätte mir gern noch einmal die Marienskulptur angesehen.
Der Weg führt steil bergab und geht
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