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Der Jakobsweg

Der Jakobsweg

Titel: Der Jakobsweg Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Carmen Rohrbach
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von Guendulain, wer waren sie wohl? Welches Schicksal mögen sie gehabt haben? Wurden sie von den Bewohnern des Dorfes gefürchtet oder verehrt? Das Schloß steht sicher schon seit Jahrzehnten leer, und im Dorf sind vielleicht nur noch ein oder zwei Häuser bewohnt. Die Erinnerung an die Vergangenheit erlöscht. Es gibt hier bald niemanden mehr, der die Geschichte an seine Enkel weitererzählen könnte.
    Ich breite die Matte auf dem kühlen Boden aus, entrolle den Schlafsack, krieche hinein und blicke hinauf auf die leere Fensteröffnung. Kein Stern leuchtet.
    In der Nacht wache ich auf, weil heftiger Wind durch die Fensteröffnungen hereinbläst. Es pfeift und heult schaurig durch die leeren Räume. Schlaftrunken ziehe ich Matte und Schlafsack in eine Zimmerecke, um vor dem Sturm besser geschützt zu sein. Aber immer wieder werde ich von den Geräuschen geweckt. Kurze Schlafphasen wechseln sich ab mit halbwachen Zuständen. Dabei sind die Träume so real, als würde ich es tatsächlich erleben. Plötzlich sitzt auf meinem Handrücken eine Riesenzecke. Ich sehe sie ganz deutlich. Das Tier ist blutrot und groß wie ein Zehnpfennigstück. Ich verspüre weder Angst noch Ekel, aber trotzdem möchte ich die Zecke entfernen, um ungestört weiterschlafen zu können. Sie läßt sich aber nicht einfach wegwischen. Gerade habe ich das Insekt mit meinen Zähnen abgebissen, da treten vier Männer in den Raum. Ich liege im Schloß Guendulain in meinem Schlafsack auf dem Boden und sehe, wie sie durch die Türöffnung hereinkommen. Sie sind alle vier mit ähnlich dunkelblauen Anzügen bekleidet. Ihre Gesichter sind maskenhaft starr. Sie tragen eine Bahre. Darauf liegt eine kranke oder tote Person. Sie stellen die Bahre neben meiner Schlafmatte ab. Da wechselt die Szene abrupt, und ich befinde mich vor einer Kommission, die die Teilnehmer für eine Expedition auswählt. Vor mir kommt Volker Huhle dran, ein Schulkamerad. Er beantwortet alle Fragen detailliert, und die Kommission ist von ihm begeistert. Ich höre kaum zu, denn die Fragen scheinen mir unwichtig. Dann komme ich dran. Ein Mitglied der Kommission, eine Frau, fragt mich: »Wie heißt die wissenschaftliche Bezeichnung für die Schuppen der Fische?« Ich sage ihr, da solle sie besser in einem Lexikon der Biologie nachschlagen. Ich wüßte zwar diesen Ausdruck nicht, könne aber anhand einer einzigen Schuppe das Alter des Fisches bestimmen. Dazu wäre nur ein Mikroskop notwendig, denn Fischschuppen haben Jahresringe wie Bäume, die man unter dem Mikroskop zählen kann.
    Unbeeindruckt von meinem Wissen, werden mir weiterhin nur theoretische Fragen gestellt. Diese Fragerei finde ich blödsinnig und verliere schließlich die Geduld. Ich werfe der Kommission vor, sie würde nur Bücherwissen abfragen, doch um eine Expedition durchzuführen und zu überleben, wäre praktisches Wissen notwendig, vor allem müsse man schnell reagieren können und sich in jeglicher Situation selbst zu helfen wissen. Da wirft sich erneut der Sturm mit Macht gegen das alte Gemäuer des Schlosses. Wild faucht er und die Kommission wird hinweggewirbelt, die Traumszene erlischt und ich merke, daß ich von meiner Matte heruntergerutscht bin, der Wind treibt sie nun über den Boden. Ich fange sie ein, lege sie unter den Schlafsack und muß wohl bald wieder eingeschlafen sein.
     

6 Von Guendulain bis Lorca
     
    Am Morgen verlasse ich »mein« Schloß. Vögel hatten mich geweckt, aber es hatte nicht lieblich geklungen, sondern aggressiv wie Kampfschreie.
    Es regnet nicht, aber tiefliegende Wolken verhängen immer noch den Himmel. Sanftes Grün beiderseits des Weges. An den Getreideähren perlen Wassertropfen. Dorngrasmücken warnen mit gedehntem »wäd wäd tze tze« und lassen, wenn ich vorbeigegangen bin, wieder ihr rauhes, knarrendes Gezwitscher hören.
    Auf dem Hang vor dem Ort Zariquiegui liegt ein Friedhof. Im Geviert eine hohe, weiße Mauer. In der Mitte wächst eine große Zypresse. Der Stamm des alten Baumes ist faserig und runzelig. Die Gittertür ist abgeschlossen, doch der Friedhof ist so winzig, daß ich ihn von der Tür aus durch die Gitterstäbe ganz überblicken kann. Ich sehe eingesunkene, mit hohem Gras bewachsene Gräber. Einfache Holzkreuze tragen den Namen des hier begrabenen Toten.
    Hinter Zariquiegui führt ein fast völlig zugewachsener Pfad zum Monte Perdón hinauf, und ich muß aufpassen, den Weg nicht zu verfehlen.
    Ich habe Durst und mir fällt wieder ein, daß ich in »meinem«

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