Der Jakobsweg
Rucksack, doch wenn es so heiß wie heute ist, können die Füße nicht abkühlen und reiben sich wund. Ich wechsle die Socken und befestige die feuchten am Rucksack zum Trocknen. Doch es war schon zu spät. Bei jedem Schritt spüre ich, wie sich die Druckstellen zu Blasen entwickeln. Nichts wie Schuhe aus! Denn die lange Strecke könnte ich nicht mit wunden Füßen gehen. Es ist ein ungewohntes Gefühl, barfuß mit Rucksack auf einer Landstraße zu laufen. Der Belag ist sehr grobkörnig und von der Sonne fast glühend aufgeheizt. In meine Fußsohlen prägen sich die spitzen Kiesel und Steinchen schmerzhaft ein. Meine Aufmerksamkeit wird jetzt ganz davon beansprucht, eine möglichst glatte Stelle für den nächsten Schritt zu finden. Auch den Pilgern früherer Zeiten machte die Fußbekleidung Schwierigkeiten. Oft hielten die Schuhe den Strapazen des Weges weniger gut stand als die Menschen. Ein Glückspilz, wer neue Schuhe auftreiben konnte und auch noch die richtige Größe erwischte! Sonst wird ihnen nichts anderes übriggeblieben sein, wie jetzt mir, als barfuß zu gehen. Immer habe ich Barfußgehen als Vergnügen empfunden und es so oft wie möglich getan, aber diesmal weiß ich bald nicht mehr, wie ich meine Füße noch aufsetzen soll. Manchmal versuche ich im Straßengraben oder im angrenzenden Feld meinen geplagten Füßen Abkühlung zu verschaffen. Aber die üppig sprießenden Disteln treiben mich schnell wieder auf den heißen Asphalt zurück. So bleibt mir denn nichts anderes übrig, als öfter eine Pause zu machen und mich einfach an den Straßenrand zu setzen.
Endlich sehe ich die Kulisse von Torres del Rio. Dort will ich bis morgen bleiben. Im Ort soll es ein Refugio, eine Pilgerherberge, geben, »Santa Barbara« genannt. Als ich ziemlich erschöpft und hinkend den Ortseingang erreiche, laufen aufgeregt einige Frauen auf mich zu: »Que pasa contigo? Mädchen, was ist denn mit dir passiert?«
Ich zeige auf meine wunden Füße. Geschwind holen sie alle möglichen Schuhe herbei. Ein Paar blaue Plastiksandalen passen schließlich. Eine Frau fragt mich, warum ich denn unbedingt nach Santiago gehen wolle. Das hatte ich mich selbst schon den ganzen Tag lang gefragt, als ich meine geschundenen Beine zum Weitergehen zwang und mir meine Schritte wie Wassertropfen erschienen, die in einer Wüste verdampften. Warum gehe ich gerade diesen alten Pilgerweg, gehe ihn ohne den Glauben, der die Pilger damals beseelte, der ihnen leuchtete und sie stärkte? Was soll ich der Frau auf ihre Frage antworten? Daß es mir Spaß macht, Strapazen zu erleben und zu überwinden, dem Körper Leistung abzuringen, wenn er vor Müdigkeit schreit und nur noch in kühle, unbewußte Dunkelheit sinken will? Das würde sie wohl kaum verstehen, sie, der Arbeit und Leben genug Strapazen und Mühsal bescheren. Oder würde sie begreifen, wenn ich ihr erzählte, wie glücklich es mich macht, so frei dahinzuziehen, am Morgen noch nicht zu wissen, wo man am Abend schläft, einzutauchen, zu verschmelzen mit der Landschaft, während sich die Konturen des eigenen Körpers verlieren, man sich aber zugleich innerlich geweitet bis zum Horizont erfährt? Schließlich antworte ich, nach Santiago ginge ich wegen des Weges. Es sei für mich wichtig, unterwegs zu sein.
»Tu buscas el camino! Ach so, du suchst noch den Weg!« ruft sie aus. »Du wirst bestimmt ankommen. Er wird dich hingeleiten, zur Seligkeit im Herrn; ich werde für dich beten.« Auf ihre Worte, mit soviel Herzlichkeit und Wärme gesagt, will ich nichts erwidern. Ich frage nach dem Refugio. »Zu Ramón Sostres willst du?« Sie schlägt entsetzt die Hände zusammen. »Da kannst du nicht hin! Der arme Ramón, er ist verrückt geworden. Sein eigenes Haus hatte er den Pilgern zur Verfügung gestellt, weil er immer so einsam war. Nun ist er ganz und gar verrückt. Nein, da darfst du nicht hingehen.«
»Entonces, donde puedo dormir? Wo kann ich sonst übernachten?«
»Torres del Rio ist nur ein armes Dorf, wir haben keine Herberge. Frage den cura, den Pfarrer, er wird dir helfen.« Die Dorfstraße steigt buckelig an. Die Häuser sind blendend weiß getüncht. Plötzlich sehe ich inmitten des Dorfes eine achteckige Kirche - sofort erinnere ich mich - achteckig, wie die Kirche von Eunate. Wohl ist die Eunatekirche schöner, auch weil sie rätselhaft allein auf freiem Feld steht, doch diese hier, Santo Sepulcro genannt, könnte immerhin derselben Bauepoche entstammen und auch den gleichen
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