Der Jakobsweg
ist zwölf. An den Wochenenden habe ich mit ihr geübt. Sie wird es schaffen.«
»Warum pilgerst du so oft nach Santiago, Jesus?«
»Ich weiß nicht. Ich muß es einfach immer wieder tun. Es ist schön. Es reinigt mich. Ich lebe nicht so gesund. Hier, die Zigaretten, und nicht nur das, manchmal trinke ich mehr, als ich sollte und esse zuviel, die Arbeit, der Ärger, all das ist ungesund. Nicht nur mein Körper profitiert von der Pilgerreise, auch innerlich, meine Seele, das ist wichtig. Und ich lerne dazu, treffe unterwegs Menschen, die mehr wissen als ich. Ich habe sogar Französisch gelernt, weil ich mich einer französischen Pilgergruppe angeschlossen hatte.«
Jesus ist vierzig Jahre alt. Er ist klein und untersetzt. Braune Haare hängen ihm strähnig in die viereckige Stirn. Die engen Augen verstecken sich unter vorgewölbten Augenbrauen. Der Mund ist farblos und besitzt keine Konturen, er hebt sich kaum von der übrigen Gesichtshaut ab. Seine Hände sind kräftig mit kurzen Fingern, an denen mir die eckig geschnittenen und vom Rauchen gelbgefärbten Nägel auffallen.
Ich betrachtete gerade die Kirche San Bartolomé mit ihrer expressiven Portalplastik, als er mich ansprach. Ich reagierte abwehrend, weil ich heute bereits öfter belästigt worden war. Bisher war ich vor zudringlichen Männern sicher gewesen. Die Bewohner der Dörfer, die Bauern und Schäfer, denen ich begegnete, waren zwar neugierig, sie versäumten nie, nach dem Woher und Wohin zu fragen und wunderten sich, warum ich allein wanderte, keiner aber machte anzügliche Bemerkungen, als Frau war ich für sie ohne Bedeutung. Da ich mich als Pilgerin auf dem Weg nach Santiago befinde, bin ich in ihrer Vorstellung unantastbar wie eine Heilige. Nur Angel in Puente la Reina war eine gewisse Ausnahme. Seine Blicke und Anspielungen amüsierten mich, ja sie schmeichelten mir sogar, vielleicht weil er noch sehr jung war und sein Werben deshalb so unschuldig wirkte. Heute in der Frische des Morgens war ich von Torres del Rio zuerst einen Feldweg entlanggegangen. Der vom Gewitterregen aufgeweichte Boden gab bei jedem Schritt schmatzende Töne von sich, und dicke Batzen Lehm blieben an meinen Schuhen hängen. Heidelerchen saßen auf Grasbuckeln am Feldrain und sangen ihre Sehnsuchtslieder. Weinfelder, Mandelbäume, Oliven und Getreide waren durchflochten mit Mohn und Kornblumen. Ich hörte einen Wiedehopf rufen. Er blieb verborgen im hohen Gras, ließ aber unermüdlich seine dumpfen Töne erschallen. Weiße Haufenwolken türmten sich am Himmel. Dann kam wieder eine Fahrstraße, viele Kilometer weit. Sie war schmal, kaum zwei Wagen hatten nebeneinander Platz. Trotzdem fuhren die Autos mit großer Geschwindigkeit und sehr dicht aufeinander. Immer wieder sprang ich in den Straßengraben. Dringend suchte ich eine Abzweigung, aber es gab nur geschlossene Feldfluren. Einige Fahrer machten mir obszöne Handzeichen. Meine Wut steigerte sich, als andere ihr Fenster herunterkurbelten, langsam neben mir herfuhren und mich mit dreisten Worten aufforderten, einzusteigen. Es schien mir am klügsten, überhaupt keine Reaktion zu zeigen. Ich tat einfach so, als verstünde ich kein Spanisch, ja, als wäre da überhaupt niemand und ging starr geradeaus blickend meinen Weg. Verständlicherweise war ich deshalb sehr verschlossen, als sich dann Jesus mit mir unterhalten wollte. Da er sich aber für meine Pilgerreise interessierte, verlor ich bald mein Mißtrauen. Er wußte viel zu erzählen.
»Weißt du eigentlich, daß du dich jetzt in der Provinz Rioja befindest? Wir haben hier den besten Wein ganz Spaniens.«
»Was macht denn die besondere Qualität eures berühmten Weines aus?«
»Nun, wir haben die beste Erde, fruchtbares Land, das der Ebro bewässert und die Sonne, du merkst ja selbst, wie heiß sie herunterbrennt. Die Kunst des Kelterns lernten wir schon früh von den Kellermeistern aus Frankreich, die auf ihrem Weg nach Santiago hier durch unsere Gegend kamen. Manche blieben sogar für immer, wenn ihnen ein hübsches Mädchen begegnete.«
»Logroño ist durch den Pilgerweg groß geworden«, erzählt Jesus weiter, »vorher war es nur ein winziges Dorf. Dann kamen die Pilger und brauchten Unterkünfte, Essen und Kleidung. Es siedelten sich Handwerker und Händler an. Die Stadt wuchs und wuchs. Wenn du dir den Stadtplan ansiehst, erkennst du, wie sich Logroño linear von Ost nach West erstreckt, das ist die Richtung des Pilgerweges, la ciudad como el camino, die Stadt
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