Der Jakobsweg
genügend Vertrauen zu entwickeln, über solche subtilen Dinge zu sprechen. Aber ich beobachte das Verhalten der Frauen, ihre Bewegungen und Blicke geben mir einigen Aufschluß. Immer wieder sehe ich, wie insbesondere Söhne von ihren Müttern vergöttert werden. Und die Mutterrolle ist für viele Frauen wichtiger als die Beziehung zu ihrem Mann. Zu ihm besteht mitunter eine große Distanz. Nicht wenige Frauen, die verheiratet sind, bemühen sich nun nicht mehr, attraktiv für ihren Mann zu sein, sie kleiden sich unauffällig, oft sogar nachlässig, und ihre Figur verändert sich unvorteilhaft. Wahrscheinlich würde ich auch bei sehr vertrauten Gesprächen nicht mehr erfahren als durch Beobachtungen. Ich glaube, diese Verhaltensweisen sind so verinnerlicht, daß sie den Frauen selbst nicht bewußt sind. Für einen Jungen, der zum Mann heranreift, muß diese Situation erst recht schwierig sein. Er wird so erzogen, daß die Frau einerseits für ihn etwas Heiliges, Unberührbares ist wie die Mutter, oder rein und unschuldig wie die Jungfrau Maria. Diesen Frauentypus darf er nicht begehren. Durch seine Begierde würde er ihre Unschuld beflecken und sich selbst das schöne Bild verderben. Also muß er, wenn er seine Lust stillen will, das Gegenteil suchen, statt der Heiligen die Hure. Mir fällt ein, mit welch tiefem Ausdruck der Enttäuschung mich Angel als santa bezeichnet hatte. Und die Autofahrer... Aus ihrer Sicht ist es zu verstehen, wenn sie mich belästigen. Eine anständige Frau läuft ihrer Meinung nach nicht allein auf der Landstraße herum, wer das tut, kann nur eine Hure sein, una puta. Und ein richtiger Mann darf sich, bei seiner Ehre, so eine Gelegenheit nicht entgehen lassen.
Vom Kloster Cañas war ich weitergewandert auf einer kaum befahrenen Landstraße. Die Weinfelder liegen hinter mir im Ebrotal. Beidseits meines Weges nach San Millán dehnten sich wieder Getreidefelder, das Korn reifte jetzt schon Ende Mai der Ernte entgegen. Saftig grün die Bachniederungen. Der Straßenrand war mit buschigen Hecken bewachsen, und auf den herausragenden Ästen saßen Schwarzkehlchen mit Mohrenkopf und rostroter Brust.
Auf und ab über wellige Landschaft mit Feldern und Waldflecken führte mich die Straße in vielen Windungen dem Gebirgszug, der »Sierra de la Demanda«, entgegen. Die Straße war nun fast so schmal wie ein Fahrradweg. Bäche sammelten Feuchtigkeit in den Tälern. Die Berge drängten näher. Wolken, weißgehäuft, quollen am zuvor makellos blauen Himmel. Bauern ritten von ihren Feldern heimwärts. Kleinste Dorfflecken wie Badarán und Berceo, schienen fast von der Welt abgeschnitten. Dann endete die Straße. Die letzte Ortschaft: San Millán de la Cogolla. Ursprünglich Cogulla, abgewandelt in Cogolla, bezeichnet die Mönchskutte.
Neben dem Dorf im Talgrund ein mächtiges Kloster: San Millán de Yuso. In das warme Licht der Abendsonne getaucht, sah ich hinter hohen Umfassungsmauern Gebäude im klassischen Renaissancestil, eine Barockkirche und Wirtschaftsgebäude.
»Yuso« bedeutet im Altspanischen: das untere - der Pfarrer in Azofra hatte allerdings gemeint, ich solle nach »Suso« - zu dem oben im Wald gelegenen Kloster - gehen. Dennoch wollte ich nicht versäumen, das große Kloster im Tal kennenzulernen. Nur sieben Augustinermönche leben in der riesigen Anlage, erfuhr ich. Kaum zu glauben, wie sie das weiträumige Gebäude instandhalten können.
»Das schaffen wir schon, der Tag ist lang. Und in den Sommerferien kommen die Novizen.« Sie lächeln, sie schmunzeln, sie strahlen. Sieben alte Männer in braunen Kutten.
»Kommen Sie herein. Sie sind den ganzen Tag gelaufen - da wird eine warme Dusche sicher eine Wohltat sein.«
Hatte ich richtig verstanden? Mönche im Kloster, ich eine Frau, und da sollte ich mich ausziehen und duschen?
Der Prior winkte einem Bruder und der führte mich durch Hallen und lange Gänge, Treppen empor und wieder durch Gänge zu einem weißgekachelten Badezimmer. Er warf den Wassererhitzer an, lächelte und verschwand.
So nötig wäre eine Dusche gar nicht gewesen, dachte ich, nachdem ich mich ja am Morgen im Kloster von Nájera an einem Becken mit fließendem Wasser waschen konnte. Aber das heiße Wasser war dann doch eine Wohltat.
Wohlriechend und mit noch nassen Haaren erschien ich wieder an der Pforte. Bruder Nikolas stand bereit, mir das Kloster zu zeigen.
»Unser Orden ist 1878 hier eingezogen, nachdem das Gebäude 43 Jahre leer stand. Vorher lebten hier
Weitere Kostenlose Bücher