Der Jakobsweg
gesehen, und ihre einheitlichen schwarzweißen Trachten und die Kopfhauben, die die Gesichter eng umschlossen - keine Haarsträhne lugte hervor -, erschwerten ein individuelles Unterscheiden. Doch da war eine, sie trug noch keinen schwarzen Umhang, sehr jung noch, vielleicht eine Novizin, ganz in Weiß gekleidet, weiß auch ihr Gesicht, klar und rein, aber irgendwie fast leblos. Mit ihrer in Demut erstarrten Haltung machte sie auf mich den Eindruck einer Gefangenen, nein, eher wie jemand, der sich freiwillig zur Opferung entschlossen hat und sich schon weit vom Irdischen dieser Welt entfernt hat.
Plötzlich eine tiefe Stimme. Männergesang mischte sich in den ätherischen Klang der Frauenstimmen. Das geschah so unverhofft, und der Kontrast zwischen den Stimmen war so gegensätzlich, daß eine Gänsehaut meinen Körper überlief. Nie habe ich deutlicher die verborgene Erotik in einem katholischen Ritual gespürt wie in diesem Moment, als der Priester seinen männlichen Gesang mit dem weiblichen mischte. Zuerst war er noch fern, seine Stimme wehte von draußen herein. Wie eine anbrandende Welle schwoll sie allmählich, wurde lauter, umspülte besitzergreifend die hohen Töne des Frauengesanges. Der Priester kam durch die vordere Tür, durch die ich auch hereingeführt worden war. Singend schritt er den schmalen Gang zwischen Bänken und Wand entlang. Volltönend jetzt der Gesang. Er war ein sehr großer, kräftiger Mann. Über dem gewaltigen Brustkorb spannte sich sein Ornat. Singend kniete er nieder, singend neigte er den Kopf, erhob sich und nahm seinen Sitz, getrennt von den Nonnen, außerhalb des Gitters ein. Sein Canto überwand mühelos diese Trennung, es umhüllte, umfing die Frauen, drang gleichsam in sie ein. Rein äußerlich bemerkte ich bei den Nonnen keine Regung, aber seit sich das männliche Timbre, zuerst von weit, dann unaufhaltsam anschwellend in ihren Gesang mischte, veränderte sich die Klangfarbe ihrer Stimmen. Die tiefen männlichen Laute gaben den sich immer höher schwingenden weiblichen Tönen Halt und Bestimmung. Mir erschien dieser Gesang wie die unverfälschte Ausprägung des männlichen und weiblichen Elementes, sublimiert in einem heiligen Choral. Noch jetzt, viele Stunden später, im Kloster San Millán de Yuso, erinnere ich mich lebhaft daran und spüre noch die Erregung, die von ihm ausging. Ich bemühe mich, das Erlebte richtig einzuordnen. Ich finde es bewundernswürdig, wie manche Menschen ihre Gefühle und Triebe so weit beherrschen und abstrahieren können, daß sie diese nicht mehr real erleben müssen, sondern sie in vergeistigter Form zum Ausdruck bringen - sie in Kunst verwandeln. Dann sehe ich aber wieder das bleiche Gesicht der Novizin vor mir und frage mich zweifelnd, wie frei sie in ihrem Entschluß wohl war, sich für das Leben im Kloster zu entscheiden, in dem Liebe nur noch in sublimierter Form als Anbetung und Verehrung des Göttlichen existieren darf. Vermutlich werde ich es nie erfahren. Aber - bin ich denn in meinen Entscheidungen schon deshalb frei, nur weil ich auf der anderen Seite des Gitters stehe? Bin ich nicht - wie wir alle - von wiederum anderen Gesetzen abhängig und damit fremdbestimmt, ohne es zu merken?
Im Kloster Cañas fiel mir auch wieder die Fülle der Mariendarstellungen auf. Ich habe mich schon oft gewundert, wie der Marienkult bis in unser aufgeklärtes Zeitalter hinein überlebte, und ich denke darüber nach, wie die Rolle der Frauen seit Jahrhunderten von der katholischen Kirche geprägt wurde. Und bis heute gilt noch immer die von Lust und Begierde freie, unbefleckte Empfängnis als Ideal. In Spanien, wo die Kirche noch stärkeren Einfluß hat als in Deutschland, ist Maria, die als Jungfrau ein Kind gebar, das unerreichbare Vorbild. Denn die gläubige katholische Frau muß, wenn sie Mutter werden will, ihre Unschuld aufgeben und wird, nach dem von der Kirche geprägten Verständnis, durch die Befruchtung »beschmutzt«. Später wird sie, gewissermaßen als Dank für ihr Opfer, die Liebe ihrer Kinder einfordern. In ihnen sieht sie deshalb ihren wichtigsten Lebensinhalt.
Sicher, dieses Frauenbild wurde von Männern entwickelt. Männer, die glaubten, nur so ihre Ängste vor dem Weiblichen und ihre Begierde nach der Frau bewältigen zu können. Die Frauen sind es jedoch, die sich dieses Bild zu eigen machten. Sie richten nur zu oft ihr Verhalten in Gesellschaft und Familie danach. Meine Begegnungen mit Spanierinnen sind leider zu kurz gewesen, um
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