Der Jakobsweg
war sehr heiß und ich füllte eben meine Wasserflasche am Klosterbrunnen, als eine Frau mit blauer Kittelschürze geradewegs auf mich zukam.
»Wenn Sie möchten, zeige ich Ihnen die Klosterkirche, das Museum und die Schätze«, bot sie an. Sie sei von der Äbtissin beauftragt, Fremde zu führen, gegen eine kleine Spende, die dem Kloster zugute komme. Ich folgte der Frau. »Im Jahr 1170 gründeten Zisterzienser das Kloster«, dozierte die Frau. Sie gebärdete sich tatsächlich wie eine Fremdenführerin, spulte den auswendig gelernten Text herunter. Ich spürte ihre Ungeduld, wenn ich mir Zeit nehmen wollte, um die Atmosphäre auf mich wirken zu lassen. Ich gab auf. Sie stürmte voran, zeigte hierhin und dorthin, leierte Zahlen, Namen, Begriffe herunter. Nur das Grabmal der Doña Urraca López de Haro ist mir in Erinnerung geblieben. Ich weiß nicht, wer sie war, nur daß sie 1170 bis 1262 gelebt hat, also 92 Jahre alt geworden ist. Damals wie heute ein langes Menschenleben, doch vergangen und fast vergessen, würde nicht der Sarg an sie erinnern. Die Skulptur auf dem Sargdeckel zeigt sie in Lebensgröße, jung und schön mit einem grazilen Körper, den ein faltenreiches Gewand umhüllt. Ihr Gesicht ist zart und lieblich und doch auch von Ernst und Trauer geprägt. Leider werde ich nie erfahren, wie ihr Leben war.
Die Eingangspforte zum Kloster blieb für mich verschlossen. Nur ein winziges Fenster öffnete sich in der schweren Holztür. Ich entrichtete meinen Obulus für die Führung. Die Nonne, deren Gesicht ich kaum durch die Öffnung sah, bedeutete mir, einen Moment zu warten. Ich hörte trippelnde, sich eilig entfernende Schritte. Stille. Das Trippeln kam wieder. Heftiges Atmen. Eine Hand streckte sich durch das Türfensterchen. Die Hand hielt mir eine Tafel Schokolade hin. Ich rührte mich nicht. Die Hand mit der Schokolade zog sich zurück. Statt dessen sah ich den blassen Mund der Nonne.
»Nehmen Sie doch«, bat sie. »Die Schokolade habe ich extra für Sie aufgehoben, für jemanden, der soviel Kraft und Mut hat, nach Santiago zu pilgern. Bitte, ich möchte Sie Ihnen so gern schenken.«
Der Mund verschwand. Wieder wand sich die Hand mit der Tafel mir entgegen und wedelte auffordernd. Ich griff nach der Schokolade, gleichzeitig schoß mir die Röte ins Gesicht. Die Nonne drückte ein Auge an das Türloch. Ich hörte sie flüstern.
»Danke, Sie machen mir eine große Freude.«
Hätte sie mir doch Brot oder ein Stück Kuchen, einen Apfel oder eine Apfelsine gegeben, ich hätte es gern und dankend angenommen. Aber dieser Gabe fühlte ich mich nicht würdig. Ich spürte, die Schokolade stellte für die Nonne eine Kostbarkeit dar, die sie selber nicht wagte anzurühren. Es war ein Irrtum, gerade mich damit auszuzeichnen, denn ich bin keine Pilgerin auf Gottes Wegen, wie sie annahm, sondern nur auf meinen eigenen Spuren unterwegs. Fast erwartete ich, als Betrügerin entlarvt zu werden, die einer gutherzigen, mitleidvollen Nonne deren vielleicht kostbarsten Besitz wegnahm. Und richtig, oder täuschte ich mich? Die Führerin flüsterte nun dicht am Fensterchen mit der Nonne, dann bedeutete sie mir, ihr zu folgen. Sie führte mich in eine Kapelle, zeigte auf die Bankreihen und sagte: »Setzen Sie sich. Sie werden gleich kommen«, und ließ mich allein. Der karge Raum war zweigeteilt. Auf meiner Seite fünf Reihen Bänke aus hellem Holz. Weißgekalkte Wände. Weiter nichts. In der Mitte trennte den Raum ein schweres Eisengitter bis hoch zur Decke. Dahinter dunkelbraunes Chorgestühl. Als ich noch die seltsame Räumlichkeit betrachtete, mir Gedanken machte, warum und auf wen ich hier warten sollte, öffnete sich eine mir vorher verborgen gebliebene Tür jenseits des dunklen Gitters. Lautlos wie ein Geist glitt eine weißgekleidete Frau mit Kopfhaube und schwarzem Umhang herein. Wie schwebend näherte sie sich einem Kruzifix, kniete nieder, erhob sich schwerelos und ließ sich auf einem Sitz im Chorgestühl langsam niedersinken. Ihr folgten eine zweite, und nach und nach, in stetig fließender Bewegung, sechzehn Frauen. Als sie alle saßen, erhoben sie ihre Stimmen und begannen zu singen. Sie sangen hell und klar, nur ihre Laute erfüllten den Raum. Seltsam war mir zumute. Sechzehn Nonnen saßen, durch ein Gitter von mir getrennt und sangen. Und ich, eine ihnen Fremde, durfte an dieser intimen Zeremonie teilhaben. Welche mochte die mit der Schokolade sein? Ich hatte durch das Fensterchen nur Teile ihres Antlitzes
Weitere Kostenlose Bücher