Der Jakobsweg
schienen mir hilfebedürftig zu sein, beinahe wie Kranke, mit denen man sehr rücksichtsvoll umgehen mußte, und ein bißchen schämte ich mich, daß ich, ein Kind, ihnen überlegen war. Das Erlebnis prägte mich. Nie wieder war ich später in der Lage, einen Disput über Glaubensfragen zu führen. Immer entstand sofort das Gefühl, dem anderen, dem Schwachen, nicht weh tun zu dürfen. Wer Gott braucht, der mag eben an ihn glauben. Ich werde nicht mit ihm streiten, denn es gibt keine Wahrheit an sich. Jeder Mensch hat seine eigene Wahrheit, so viel Wahrheit, wie er zulassen kann, um das Leben auszuhalten.
Der Gottesdienst ist zu Ende. Wir verlassen die Kathedrale. Ein Mann spricht uns an: » Peregrinos? Seid ihr Pilger? Ich gehöre zu den amigos del camino. Bitte, kommt doch mit, ich möchte euch mit den anderen bekannt machen.« Er führt uns in ein Haus. An einer langen Tafel sitzen die amigos und heben begrüßend ihre Rotweinkrüge. »Willkommen! Setzt euch!« schallt es uns herzlich entgegen. Wir müssen immer wieder bestätigen, das Refugio in Santo Domingo sei das Beste des ganzen Weges. Ob wir das Grabmal des heiligen Domingo in der Kathedrale bemerkt hätten? Natürlich, wie hätten wir es übersehen können. Santo Domingo ist der Namensgeber und Patron der Stadt. Die 15 amigos übertreffen sich gegenseitig an Lautstärke und Wissen, uns über Leben und Taten dieses großen Heiligen zu informieren. Es ist die verblüffende Geschichte, wie einer, mit gewiß großartigen Leistungen beim Brücken- und Straßenbau, Karriere als Heiliger machte. Es heißt, er sei Eremit gewesen, aber er kann kein sehr einsames Einsiedlerdasein geführt haben, denn für seine Bauwerke benötigte er die Hilfe zahlreicher Menschen. Im elften Jahrhundert, als Domingo lebte, führte der Pilgerweg durch eine unsichere Grenzlandschaft, jederzeit war mit Überfällen arabischer Reiterabteilungen zu rechnen oder mit marodierenden Straßenräubern. Der Weg bestand aus der verfallenden römischen Straße oder aus kaum gebahnten Pfaden. Besondere Schwierigkeiten bereitete das Überqueren der Flüsse. Manchmal mußten sie durchwatet werden oder die Pilger waren auf Fähren angewiesen. Zuerst baute Domingo eine Brücke über den Fluß Oja, mit 24 Bögen überspannte sie den oft gefährlich angeschwollenen Fluß. Domingo schuf sich eine Bleibe östlich der Oja, wo sich heute die Stadt befindet, die nach ihm benannt wurde und konstruierte fleißig weitere Brücken, Wege und Pilgerherbergen. Wegen seiner Verdienste zum Wohle der Pilger wurde Domingo heiliggesprochen. Er starb im Jahr 1109. Übrigens sind die amigos der Meinung, es sei Santo Domingo gewesen, der den blonden Hugonell vor dem Tod am Galgen bewahrt habe.
13 Von Santo Domingo nach Juan de Ortega
Justin und Atze hatten wie ich ihren Pilgerweg in St.-Jean-Pied-de-Port begonnen, Gerda in Pamplona, weil sie nicht allein das Gebirge überqueren wollte. Rund 200 Kilometer lang sind wir uns nicht begegnet. Atze hatte den größten Vorsprung. Doch er verlief sich in den Pyrenäen und überanstrengte sich, weshalb er in Logroño pausieren mußte. Ich habe durch den Abstecher nach San Millán Zeit eingebüßt. Als letzter war Justin gestartet. Durch größere Tagesetappen gelang es ihm, Gerda, die zwei Tage voraus war, einzuholen. Jeder von uns hatte sich bisher als Alleingänger auf dem Weg gefühlt. Jetzt war es irritierend zu erfahren, daß vor mir und hinter mir noch andere waren. Was ich als einmaliges Erlebnis für mich verbuchte, das hatte vor mir Atze schon gesehen, und nach mir stand es Gerda und Justin bevor. Bei den Gesprächen wandelte sich das irritierende Gefühl bald in eines von Verbundenheit. Ich freute mich, daß auch die anderen vom einsamen Eunate berührt und ebenfalls von den romanischen Portalen begeistert waren und in Puenta la Reina die Brücke bewundert hatten. Die Empfindungen stimmten überein. Jeder hatte außerdem noch seine eigenen Erlebnisse. Wir hörten von Dingen, die auf dem Weg zu finden gewesen waren, aber für die nur einer von uns die richtigen Augen gehabt hatte. So erlebten wir die Strecke vierfach.
Es ergibt sich von selbst, daß wir am Morgen gemeinsam die casa del peregrinos verlassen. Eine Etappe fast nur auf der Landstraße steht uns bevor. Zusammen ist es ertragbarer. Mir scheint, meine Weggenossen empfinden den Lärm, den Gestank und den Rückwind der Fahrzeuge nicht so schlimm wie ich, oder finden sie sich nur besser in das
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