Der Jakobsweg
durch Erhängen, eine damals durchaus übliche Bestrafung von Dieben.«
Justin blickt in die Runde, ob wir uns von seiner Erzählung fesseln lassen. »Paßt auf, nun beginnt das Wunder. Als seine Eltern auf der Rückkehr von Santiago wieder am Richtplatz vorbeikamen und weinend am Galgen niedersanken, hörten sie plötzlich die Stimme ihres Sohnes Hugonell: »Seid nicht betrübt, liebe Eltern. Ich lebe! Der heilige Santiago hat mich gerettet, weil ich unschuldig bin. Bittet den Richter, er soll mich abschneiden lassen.« Doch dieser hatte sich gerade zu Tisch gesetzt und rief zornig: »Euer Sohn ist so lebendig wie diese zwei gebratenen Hühner hier. Da begannen Hahn und Henne mit den Flügeln zu schlagen, der Hahn krähte, die Henne gackerte, und sie flogen von der Tafel auf. Die Unschuld des jungen Hugonell war erwiesen.«
»Na, Justin, glaubst du die Geschichte?« neckte ihn Atze.
»Natürlich! Als Beweis dienen ja die Hühner dort«, erwiderte verschmitzt lächelnd der Franzose.
»Ich denke, daß im Laufe der Zeit immer mehr dazugedichtet wurde«, mischt sich Gerda ein.
Der Gottesdienst beginnt. Die Bankreihen sind voll besetzt. Mich macht es verlegen, wenn die Gläubigen während der Predigt niederknien. Atze und ich sind die einzigen, die sitzen bleiben. Das erinnert mich an eine mißliche Situation, als ich sechs Jahre war. Die Mutter hatte mich in Dresden in den Zug gesetzt, mit einem Pappschild, auf dem mein Name stand, denn die Großeltern in Lübeck hatten mich noch nie gesehen. Das Erkennen verlief problemlos, aber dann nahm mich die Großmutter unvorbereitet mit in einen Gottesdienst. Das war das erste Mal, daß ich eine katholische Messe erlebte. Ich erschrak heftig, als unvermutet alle Menschen nach unten auf die Knie sanken. Ich kleiner Knirps überragte nun alle.
Der Priester, der für mich zuvor durch die Leute verdeckt gewesen war, schaute mir in die Augen. Ich erstarrte und fühlte mich ertappt. Ohne den Grund zu erkennen, flößte mir der Blick des Pfarrers Schuldgefühle ein. Es schien eine Ewigkeit zu dauern, bis endlich die Gläubigen nach oben kamen und ich wieder in ihrer Mitte verschwand. Ich atmete gerade auf und die Erstarrung löste sich, als sie wieder nach unten tauchten. Und erneut war ich dem prüfend strafenden Blick des Geistlichen ausgesetzt. Aber so oft auch die Leute noch niederknieten, ich kam nicht auf die Idee, es ihnen nachzumachen. In mir sammelte sich Groll an, der sich danach beim Mittagessen mit den Großeltern entlud. Ich weiß den Auslöser nicht mehr, wahrscheinlich war es das Tischgebet des Großvaters. Ich erhob meine Stimme und erklärte kategorisch, es gebe keinen Gott! So ein dummer Quatsch sei das, das wüßte bei uns schon jedes Kind. Alle starrten mich an. Totenstille herrschte.
»Bitte verlasse den Tisch und gehe in dein Zimmer«, befahl die Großmutter.
Ich weiß nicht, wie lange ich dort gesessen haben mag, jedenfalls lange genug, um mich in eine verbitterte Anklage zu steigern. Ich würde es denen schon zeigen, wer hier im Recht ist. Nur weil ich die Wahrheit gesagt hatte, ließen sie mich hungern. Ich würde überhaupt niemals mehr essen, bis sie sich bei mir entschuldigt hätten. Lange müßten sie mich um Verzeihung bitten. Als die Großmutter ins Zimmer trat, war ich wütend und widerborstig. Aber sie sprach gar nicht über den Vorfall, sondern erzählte von ihrer Flucht aus Oberschlesien, wie schwer und furchtbar das gewesen war. »Siehst du«, sagte sie, »als es gar nicht mehr zu ertragen war, half uns Gott. Er steht uns jeden Tag bei, wenn uns das Herz brechen will, weil wir unsere Heimat verloren haben.«
Ich schaute sie groß an und begriff langsam. Die Großeltern taten mir nun sehr leid. Ich hatte nicht erwartet, daß sie immer noch jemanden brauchten, wie ein Kind, das bei den Eltern Hilfe findet. Erwachsensein bedeutete für mich, ganz allein mit sich selbst und seinen Problemen fertig zu werden. Und ich übte schon sehr entschlossen, ohne Eltern zurechtzukommen. Ich fühlte mich der Oma und dem Opa überlegen. Wenn ich groß bin, dann würde ich niemanden um Rat und Hilfe anflehen müssen, so wie sie ihren Gott.
»Du hast dem Opi sehr weh getan«, sprach sie weiter. »Er leidet schon genug, weil sein Sohn, dein Vater, Gott verlassen hat. Opi hatte sich auf dich gefreut, und nun lästerst du Gott. Geh und entschuldige dich.«
Ich war nun sofort bereit, mich zu entschuldigen. Denn ich hatte Mitleid mit den Großeltern, sie
Weitere Kostenlose Bücher