Der Jakobsweg
Unvermeidliche? Es gelingt ihnen sogar, sich zu unterhalten, als ob die Tage des Alleinwanderns den Rededrang aufgestaut haben. Ich höre ihnen zu, denn es interessiert mich zu erfahren, warum die anderen den Pilgerweg gehen. Gerda erzählt mir von ihrem Leben. Sie macht auf mich einen sehr weichen, unselbständigen und zaghaften Eindruck. Von vornherein hätte ich ihr nicht zugetraut, daß sie eine derartige Strapaze unternimmt und noch dazu den Mut findet, allein aufzubrechen. »Eine Freundin hatte mir versprochen mitzugehen«, erklärt sie, »dann hat sie aber einen Rückzieher gemacht, und ich habe niemanden mehr finden können. Da bin ich allein los, denn ich hatte mich zu sehr auf den Pilgerweg innerlich eingestellt.«
Gerda ist 48 Jahre alt. Im Gespräch merke ich bald, daß sie sich in einer Krise befindet.
»Das ist halt so«, sagt sie, »wenn man drei Kinder hat und sie sind dann plötzlich erwachsen und gehen von zu Hause weg. Ich habe immer verzichtet, was mir nie schwerfiel, denn es war ja für die Kinder. Nun, da sie ihr selbständiges Leben beginnen, merke ich, daß ich selbst gar kein eigenes mehr habe. Ich wollte Malerin werden, hatte sogar einen Studienplatz. Da kam Norbert, mein erster Sohn. Zuerst besuchte ich noch mit Baby die Kurse, hatte zwischen Wickeltisch und Küchenherd den Skizzenblock liegen. Es kam nicht viel dabei heraus. Ich verglich meine kümmerlichen Versuche mit den Fortschritten der Studienkollegen. Es war deprimierend, nahm mir den Mut. Ich war ständig müde und nervös. Da gab ich auf. Als dann noch meine Kinder Georg und Christian geboren waren, hatte ich genug zu tun und dachte kaum noch ans Malen.«
Gerda kam nicht einmal mehr dazu, Ausstellungen zu besuchen. Sie hatte die Malerei völlig aus ihrem Leben gestrichen. »Aus dem ganz tiefen Tief bin ich heraus«, sie lächelt zaghaft, »das war, nachdem Christian, mein Jüngster, mit seiner Freundin zusammenzog. Können Sie sich vorstellen, was das für eine Mutter bedeutet, die drei Söhne allein aufgezogen hat und plötzlich ist niemand mehr da, der einen noch braucht? Als ich so verzweifelt war, hörte ich zufällig von dem Pilgerweg. Ich weiß nicht wieso, aber da war dieser Gedanke, wenn du es schaffst bis nach Santiago, dann hat dein Leben noch einen Sinn. Und ich sage Ihnen, seitdem ich mich auf die Pilgerreise vorbereitete, ging es mir besser. Ich besuchte einen Malkurs, und jetzt mache ich unterwegs Skizzen. Ich fange wieder neu an.«
Sie sagt es nicht triumphierend, es klingt vorsichtig, als würde sie sich noch nicht recht trauen können, ihre blaßblauen Augen aber lächeln selbstbewußter, als es der Klang ihrer Stimme vermuten läßt.
Auch bei Justin ist ein Lebensabschnitt zu Ende gegangen. Er war jahrelang als Montagearbeiter für Erdölfirmen tätig, hat Raffinerien im Kongo und in Lybien mit aufgebaut.
»Nach der harten Arbeit nun diese plötzliche Ruhe«, erklärt er. »Seit einem halben Jahr bin ich bereits in Rente. Gehöre ich etwa schon zum alten Eisen? Nein, jeder Kilometer, den ich zurücklege, gibt mir mehr Kraft!« verkündet er optimistisch. »Ich habe noch viel vor. Was? Vielleicht erfahre ich es durch den Pilgerweg.«
Die Lebensprobleme des jungen Holländers sind komplizierter. Er weiß sehr gut, was er nicht will, aber er kann sich nicht entscheiden, was er will. Mal taumelt er hierhin, mal dorthin. Atze hat ein Ingenieurstudium begonnen, obwohl ihm alles Technische zuwider ist. Er grübelt nach über den Sinn des Lebens und faßt mitunter extreme Beschlüsse. Weil er meint, durch die Medien falsch beeinflußt zu werden, liest er keine Zeitung, hört kein Radio und sieht kein Fernsehen mehr. Er ist von den Dingen der Welt gleichzeitig abgestoßen und angezogen. Dabei leidet er unter einem rigorosen Absolutheitsanspruch: Er will die eine einzige, richtige Wahrheit finden. Er erlebt Phasen, in denen er sich selbst haßt, dann schließt er sich tagelang ein und ernährt sich nur von Konserven, dann wieder stürzt er sich in hektische Aktivitäten.
»Wenn ich durchhalte bis Santiago, dann habe ich das erste Mal in meinem Leben etwas fertig gebracht. Keiner meiner Freunde glaubt, daß ich es schaffe.«
Ein Auto hupt und hält an. Zwei Spanier steigen aus, winken und kommen auf unsere Seite. Sie schütteln uns enthusiastisch die Hände und umarmen uns begeistert. Sie sind amigos del camino und fahren geradewegs zu einem Treffen nach Burgos. Dort wollen sie beratschlagen, wie der Pilgerweg noch
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