Der Jakobsweg
Die mächtige Kirche erinnert an den ehemaligen Glanz und Reichtum. Die Tür ist abgeschlossen. Dorfleute erzählen, den Schlüssel hätte nur der Pfarrer. Eine Frau will mir behilflich sein und klopft heftig gegen eine Holztür, zuckt dann die Schultern und meint: »Nicht da!« Niemand weiß, wo der Pfarrer sein könnte. Sehenswert sollen eine Santiago-Figur sein und eine riesige Muschel von den Philippinen, die als Weihwasserbecken dient.
Nur noch Spuren künden von der vornehmen Schönheit des Pilgerhospitals San Anton. Es wurde 1380 gegründet und war bis zum 18. Jahrhundert in Betrieb, jetzt ist es eine zerfallende Ruine.
Außerhalb von Villafranca ein Friedhof. Im Viereck die weißen Mauern. Gräber mit eisernen Kreuzen, halbversunken im Boden, von Gras überwuchert. Holzkreuze liegen zerbrochen auf der Erde und vermodern langsam. Bluthänflinge schwätzen und Goldammern prunken mit ihrem knallgelben Gefieder. Die Berge steigen bis 1200 Meter an. Einsam ist es, und eine stille Schwermut liegt über dem Land. Zu Zeiten der großen Wallfahrt waren die Oca-Berge wegen der Banditen gefürchtet, die in dieser Bergwildnis eine Zuflucht fanden und die Pilgerzüge ausraubten. Zwischen Wacholder und Erika, Kiefern und Kermeseichen richte ich mein Lager. Die Erde ist hart und trocken. Wahrscheinlich war das Klima früher feuchter, denn hier soll es dichte, schier undurchdringliche Wälder gegeben haben. Im lichten Trockenwald von heute finde ich nur mit Mühe ein sichtgeschütztes Nachtlager. Blumen, die mit wenig Wasser auskommen, bedecken den Boden: gelber Hasenklee, weißes Hornkraut, Blutwurz, Heide und Aphodill.
In ferner Zeit ereignete sich in den Oca-Bergen ein Wunder. Ein Jüngling, der plötzlich gestorben war, wurde von Sankt Jakob wiedererweckt. Eigentlich verdankt er dem Heiligen das Leben gleich zweimal. Denn als sich sein Vater, der Herzog der Gascogne, vermählte, blieb diesem während vieler Jahre der ersehnte Erbe versagt. Der Herzog unternahm eine Wallfahrt nach Compostela. Er kehrte zurück, und übers Jahr gebar seine Gemahlin das Wunschkind. Als der Junge 15 Lenze zählte, brach diesmal die gesamte Familie zur Pilgerreise auf, wie es der Herzog gelobt hatte. In den Oca-Bergen erkrankte der Knabe plötzlich und starb. Bei der Beerdigung schrie die Herzogin wie wahnsinnig: »Seliger Jakobus! Da dir Gott, der Herr die Macht gegeben hatte, mir einen Sohn zu schenken, so bitte ich dich, gib mir mein Kind zurück. Tust du es nicht, so töte ich mich!« Da erhob sich der Junge, als sei er aus einem tiefen Schlaf erwacht und erzählte, wie der Apostel zwei Tage lang die vom Körper getrennte Seele an seiner Brust gewärmt und sie dann auf ein Zeichen des Herrn dem Körper zurückgegeben hatte. Aber, sagte der Wiederbelebte traurig: »Dort oben ging es mir viel besser. Ich wollte, ich hätte nicht zur Erde zurückkehren müssen.«
Wunderlegenden waren ein beliebter Erzählstoff, um sich am Abend oder bei einer Rast die Zeit zu vertreiben. Sie unterhielten nicht nur, sondern gaben Mut und Hoffnung. Mit jeder Wiederholung wurden die Geschichten glaubhafter.
Ich schlafe fest und ohne Störung bis zum Morgen. Im lichten Wald glüht es Orange, flammt es in Rot, als wäre ein Feuer ausgebrochen. Es ist die Sonne, sie geht auf. Bald erreiche ich eine Wasserstelle: »Fuente de Mojapán«. Die Bezeichnung bedeutet »Quelle, wo das Brot angefeuchtet wird«. Hier rasteten erschöpfte Pilger, holten das harte Brot ihrer Wegzehrung hervor und weichten es mit diesem kristallklaren Wasser auf. Mir ist noch nicht nach Frühstücken, dafür tut mir die erfrischende Morgendusche gut. Eine prickelnde Gänsehaut überzieht meinen Körper, als ich mich mit dem kühlen Naß übergieße. Ein gelber Lehmweg führt durch den Wald. Es ist einsam. Kein Vogel singt in dieser Trockenheit. Andere Pfade kreuzen meinen, ob ich wohl noch auf dem richtigen bin? Stunden vergehen. Die Sonne brennt. Die dürren Bäume spenden keinen Schatten. Die Hitze ist bedrückend. Wie wenig kann der Mensch ertragen! Einige Grade über dem Normalen und die Kräfte schwinden. Das Wasser ist auch aufgebraucht, alles bis auf einen Notschluck. Zwei Liter, kaum hatte ich sie getrunken, schwitzte ich sie wieder aus. Im flimmernden Licht sehe ich ein zentimeterbreites dunkles Band, es liegt quer über dem Lehmweg. Ich schaue genauer hin. Das Band bewegt sich. Es sind Schmetterlingsraupen, viele, viele, die den Weg queren, Raupen des Prozessionsspinners. Treten
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