Der Jakobsweg
»Zwei Jahre sind eine lange Zeit«, jammert er. Ob ich nicht dableiben wolle? Er habe genügend Platz in seinem Häuschen, Wein sei auch vorrätig, und jede Menge zu essen. Ich verabschiede mich. Da, noch ein letzter Versuch: Er habe so ein schönes, großes Bett, ich solle es mir wenigstens mal ansehen.
»Nur einen einzigen Blick«, bittet er.
Von den kurz zuvor gespürten wilden eruptiven Leidenschaften ist mir nichts geblieben. Ich rechne mir aus, daß ich es vor Einbruch der Dunkelheit bis zum Kloster Silos schaffen könnte. Ohne Rast wandere ich weiter. Ich beeile mich und doch brauche ich noch Stunden. Wieder setzt die kastilische Landschaft ungezügelte Gefühle frei, mir ist gleichzeitig zum Weinen und zum Lachen zumute. Hoffentlich erreiche ich bald das Kloster, dort werde ich geborgen sein. Ich denke an die lächelnden Mönche in Yuso. Eingehüllt in ihre braunen Kutten, hießen sie mich willkommen. Lächelnd führten sie mich durch ihr Kloster, gaben mir zu essen und zu trinken. In Erinnerung an Yuso bewältige ich mehr als 50 Kilometer; ich hätte doch wissen müssen, daß man nicht zweimal das gleiche erleben kann.
Als ich das Gefühl habe, keinen Schritt mehr gehen zu können, jetzt gleich niedersinken zu müssen, sehe ich die roten Dächer von Silos. Das Kloster liegt nicht abseits der Siedlung, wie ich es mir erträumt hatte, sondern direkt im Dorf. Es ist von einer unglaublich hohen Mauer umgeben, höher als ein mehrstöckiges Haus. Der Anblick dieser Mauer, die keinen Blick auf das Klostergebäude gestattet, verunsichert mich. Mauersegler schreien und pfeilen schwarz durch die Abenddämmerung. Je näher ich komme, um so abweisender wirkt das Kloster. Ich drücke die Klingel neben der Pforte. Lange muß ich warten. Dann öffnet sich ein Guckloch, ich sehe ein Auge. Die Klappe fällt scheppernd über das Loch, aber die Pforte bleibt geschlossen. Geduldig harre ich wohl eine halbe Stunde aus. Dann wage ich noch mal zu klingeln. Ich bin so erschöpft, daß sich mein Bewußtsein verändert haben muß, denn ich fühle mich wie eine Pilgerin des Mittelalters, und um mir Mut zu machen, spreche ich meine verqueren Gedanken laut aus: »Laßt mich ein! Fürwahr, ich habe ein Recht darauf. Schließlich pilgere ich nach Santiago. Todmüde bin ich jetzt, geschunden an Leib und Seele. Habe mannigfaltigen Gefahren getrotzt. Ausgedörrt von sengender Hitze, war ich preisgegeben den Naturgewalten. Mußte widerstehen den Anfechtungen und Verführungen. Ich habe mir ein Nachtlager im Kloster wohl verdient.«
Wieder blickt jemand durch den Spion. Ich sage zu dem Auge: »Bitte, lassen Sie mich ein. Ich bin eine Pilgerin nach Santiago. Den weiten Weg zu Ihrem Kloster bin ich zu Fuß gegangen.«
Schweigen. Es macht mich verrückt, keine Antwort zu bekommen. Ich steigere die Theatralik, ohne zu merken, daß ich eine Rolle spiele. »Bitte, ich bin zu Tode erschöpft. Es ist Ihre Christenpflicht!«
Eine Stimme hinter der Tür antwortet: »Jetzt ist keine Besuchszeit! Morgen ab 9 Uhr ist geöffnet. In der Ortschaft können Sie übernachten.« Diese trocken geäußerte Auskunft bringt mich schlagartig in die Realität zurück. In welch lächerliche Situation hatte ich mich da gebracht? Wie dumm, auf ein imaginäres Recht zu pochen, in jedes Kloster eingelassen zu werden. In welchem Jahrhundert leben wir denn? Im Ort finde ich bald eine Unterkunft. Fast an jeder Ecke gibt es ein Hotel oder eine Pension. Silos ist wegen seines berühmten Klosters ein Touristenort.
In der Nacht habe ich einen eigenartigen Traum: Jemand will mich verletzen und zerstört Dinge, die mir gehören. Er zerreißt meine Kleidung. Damit kann er mich nicht treffen, denn an den Sachen liegt mir wenig. Doch dann nimmt er einen Pullover, den meine Schwester gestrickt hat. Ich will ihn daran hindern, doch ich kann es nicht. Als nächstes fällt er über die Bücher her, zerfetzt Seite für Seite, dann meine Tagebücher, Briefe, Manuskripte. Ich muß zuschauen und kann nichts machen. Ich war überzeugt gewesen, er würde mir nicht weh tun können, weil ich nicht an den Dingen hänge. Erst jetzt, als die Gegenstände zerstört sind, spüre ich, daß sie mir doch viel bedeutet haben. Sie waren ein Teil von mir gewesen, und ich hatte es gar nicht gewußt.
Wie immer wache ich früh auf und schlendere durch die Siedlung. Ein Eselfuhrwerk zockelt die Dorfstraße entlang. Gelbe Hunde mit Ringelschwänzen traben an weißgetünchten Häuserwänden vorbei. Zwei
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