Der Jakobsweg
Symbol der Pilgerreise nach Santiago. Der Mönch kommentiert: »Christus tritt hier als Pilger auf. Denn ist nicht jedes Erdenleben eine Pilgerreise? Die irdische Wanderschaft des Herrn auf dem Weg zum Himmel ist ein Beispiel für jeden von uns, um Erlösung zu finden.«
In einfacher Klarheit füllen die drei Gestalten die Bildtafel. Das Antlitz Jesu drückt eine herbe Hoheit aus. Der erste Jünger blickt zu ihm empor. So entsteht ein Spannungsbogen zwischen Jesus und den Jüngern. Die Figuren sind plastisch modelliert, doch der Faltenwurf der Gewänder und die Umrisse der Formen sind eher zeichnerisch.
Beim Vergleich der acht Marmorplatten fällt mir auf, daß fünf sich sehr ähnlich sind. Bei ihnen gibt es eine Fülle von Figuren. In Reihen sind viele Gestalten neben und übereinander angeordnet. Die Bildtafeln mit dem Baum Jesse und Maria Verkündigung scheinen mir von einem späteren Künstler zu stammen. Die archaische Strenge und Einfachheit sind hier durch üppigen Faltenwurf, bewegte Formen und plastische Flächen aufgeheitert. Deshalb wirkt die Verkündigung auf mich fast schon barock. Aber die Platte, die Jesus mit den zwei Jüngern zeigt, ist von allen anderen verschieden. Gerade von diesem Bild geht etwas besonders Eindringliches aus. Es ist scheinbar so wenig zu sehen - nur drei Skulpturen. Und doch, sie ziehen meinen Blick magisch an, lassen mich nicht los, ich muß stehenbleiben und schauen und denken und fühlen. Ich möchte das Rätsel dieses Bildes lösen, sein Geheimnis ergründen. Warum hat sich der Künstler nur auf die drei Dargestellten beschränkt? Hat er gewußt, daß er so eine größere Wirkung erreicht? Warum hat er nur diese eine Tafel gestaltet? Denn ich bin überzeugt, die anderen sind nicht von ihm. Ich glaube, diese Platte ist die älteste, vielleicht stammt sie noch aus dem westgotischen Kloster? Die Führung ist beendet.
Hinter dem Rücken des Benediktiners flitze ich zurück zu dem Relief. Endlich bin ich allein. Auch die anderen Gruppen streben dem Ausgang zu. Ich hoffe, übersehen zu werden. Doch leider, der Mönch hat mich schon entdeckt. Die Tür wird hinter mir geschlossen.
15 Von Silos bis Villalcázar
Ich bin wieder auf dem Pilgerweg. Drei Tage habe ich für den Umweg von 160 Kilometern gebraucht. Der Wunsch, die anderen Pilger wiederzutreffen, hat mich angetrieben. Wenn ich nur wüßte, wie viele Tage sie sich in Burgos aufgehalten haben! Ob sie weit voraus sind? Ich fühle mich übervoll von dem Erlebten, vollgestopft mit Eindrücken, angefüllt mit Bildern, Tönen, Gerüchen, Gedanken, Gefühlen. Ich kann das Übermaß nicht ordnen, nicht Wichtiges von weniger Wichtigem unterscheiden. Ich werde einige Zeit brauchen, um wieder zur Besinnung zu kommen, nachzudenken, zu verarbeiten. Wieder Platz in mir schaffen für Neues. Wenn ich doch mit jemandem reden könnte, der auch Pilgererfahrung hat und im Gespräch das Erfahrene relativieren, vergleichen, klären und bewußt machen könnte. Wenn ich nicht alle drei wiederfinden kann, für wen würde ich mich entscheiden? Gerda? Nein, wir haben zu verschiedene Ansichten, mit ihr könnte ich keine Gefühle und Gedanken austauschen. Justin? Nein, auch nicht. Er ist mir zu realitätsbezogen, zu pragmatisch in seinen Anschauungen. Ja, natürlich, es ist Atze, mit dem ich mich unterhalten möchte, der romantische, etwas wirre, unreife, junge Holländer. Jetzt aus der Entfernung merke ich, daß es Ähnlichkeiten zwischen uns gibt. Es ist reizvoll für mich, mit ihm zu sprechen, er steckt noch nicht in festen, vorgegebenen Lebensbahnen, alles ist noch offen, alles kann noch mit ihm passieren. Nicht, weil er noch so jung ist, sondern weil er etwas sucht, was man nicht finden kann.
Es ist später Nachmittag. Dunkle Regenwolken, ein ungewöhnlicher Anblick nach den sonnengleißenden Tagen in der kastilischen Hochebene. Ich habe die Stadt Burgos wieder erreicht. Die Straßen sind naß, hier muß es kräftig geregnet haben. Ich bin sehr erschöpft. Gestern Mittag war ich noch im Kreuzgang von Silos. Dann bin ich gelaufen ohne Unterlaß: ein unerbittlich blauer Himmel, die weißgrelle Sonne, kein Schatten, eine Erde, ausgetrocknet bis auf das knochige Kalkgestein, zitternde Stille, in der blaugeflügelte Heuschrecken die Luft vibrieren lassen, selten ein Vogel. Die Nacht: den harten Boden unter mir, die Last eines mit fremden Welten angefüllten Himmels über mir. Ich hatte das Gefühl, als könne die Erde, dieser ausgebrannte
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