Der Jakobsweg
keinen Durst. Ich gleiche mich diesem Land an, bedürfnislos, dürr und trocken, so als würde sich die Landschaft ihre Menschen formen. Wer hier existieren kann, muß anders sein als die, die in fruchtbarer, üppiger Natur leben: wortkarg, hart, unerbittlich, vielleicht grausam, aber ganz bestimmt leidenschaftlich. Das ist das Paradoxe an extremen Lebensumständen, statt die Gefühle abzutöten, bekommen sie explosive Kraft. Die Gefühle können sich nicht allmählich verströmen, sondern werden zäh verschlossen, so lange zurückgehalten, bis sie sich mit einer Eruption Ausdruck verschaffen. Bei meinem Lauf über die sengende, kastilische Hochebene spüre ich: Leidenschaft wie glühende Lava, über der ein Felspfropf liegt. Wie kann einem solchen Übermaß aufgestauter Gefühle Ausdruck verliehen werden? Versagt da nicht jede gemäßigte Form? Ich kann mir vorstellen, daß man dann einfach einen Gott braucht, vor dem man niedersinkt auf die Knie, die Arme emporgehoben, anklagend und gleichzeitig um Erlösung bittend. Aber vielleicht rede ich mir das alles nur ein, ich sollte lieber mal eine Pause machen und etwas essen. Es kann nicht mehr weit sein bis Quintanilla de las Viñas. Dort will ich unbedingt eine alte Eremitage sehen, weil sie aus dem 7. Jahrhundert sein soll, also etwa die Zeit von San Millán, als die Westgoten in Spanien herrschten und die Araber noch nicht eingefallen waren. Ich habe nun mal eine Vorliebe, der fernsten Vergangenheit nachzugehen, von der kaum noch Spuren zu finden sind.
Die Wegbestimmung mit dem Kompaß scheint genau gewesen zu sein. Ich sehe ein Gebäude auf einer Anhöhe liegen. Aus der Ferne betrachtet, sieht Quintanilla de las Viñas nicht wie eine Kirche aus. Sie ist klein, doch wirkt sie durch die strenge Form, die Kanten und Ecken, schwer und bedeutend. Als ich davorstehe, entdecke ich fasziniert, wie die strenge Architektur der Mauern von einem umlaufenden, doppelten Fries verspielt durchbrochen wird. Dieser Fries besteht aus kunstvoll in den Stein geschnittenen Figuren: Ranken, Früchten, Blättern und Bäumen, Tauben, Pfauen und Fabelwesen. Jede Figur ist für sich von einem feinziselierten Medaillonreif eingeschlossen. Aneinandergereiht umborten die Figuren in zwei Reihen die gelb-roten Außenwände der Kirche. Wie bei dem Kloster San Millán de Suso habe ich auch hier das Empfinden, als würden sich Gegensätze vereinigen, die man als männliches und weibliches Element bezeichnen könnte. Im Unterschied zum Kloster Suso, das nach der Zerstörung durch Almansor wieder errichtet wurde, soll Quintanilla de las Viñas im 7. Jahrhundert, noch vor dem Einfall der Araber, erbaut worden sein, also muß es rein westgotisch sein. Beim Umrunden des Gebäudes erkenne ich, daß nur noch ein Teil vorhanden ist. Die viereckige Apsis und das Querschiff sind kaum neun Schritte lang und drei Schritte breit, ein Längsschiff fehlt. Zwischen den sorgfältig behauenen, rötlichen Quadersteinen sind manchmal breite Spalten. Es sieht aus, als sei die Kirche neu zusammengesetzt worden. Auf einigen Steinquadern an der Apsis sind uralte runenartige Zeichen eingeritzt, Längsstriche mit mehreren kleinen Querbalken und Halbkreise, aus denen Kreuze herausragen. Waren es Steinmetzzeichen? Sie sehen bedeutungsvoll aus, fast wie Beschwörungen, doch ihre Bedeutung ist zusammen mit den Menschen, die sie gezeichnet haben, verschollen. Entfernt erinnern sie mich an Zeichen, die mit Holzkohle an den Wänden einer steinzeitlichen Höhle im Süden Spaniens angebracht worden waren. Fenster hat die Kirche keine, nur schmale, lange Schlitze durchbrechen die Außenmauern.
In der Nähe, im Tal, liegt ein Dorf. Ich erkundige mich nach jemandem, der etwas über das westgotische Kirchlein weiß. »Ja, natürlich, da haben wir doch den Pedro!« Und hilfsbereit führt man mich zu seinem Häuschen. Pedro, sehr eilfertig, kommt aus dem Haus und will mich zur Anhöhe hinaufführen. Enttäuscht vernimmt er, ich käme geradewegs von dort. Ob er mir nicht etwas über die Kirche erzählen könne? Ja, selbstverständlich, er wüßte alles und schon schnurrt er seinen Text herunter. Für mich ist nichts Neues dabei. Ich gebe noch nicht auf, frage, warum zwischen manchen Steinquadern große Zwischenräume seien und wo die Steine von dem Langhaus geblieben wären? Er zuckt die Achseln, und weil ich immer noch nicht gehe, wird sein Blick betrübt und zugleich bittend.
»Meine Frau ist schon vor zwei Jahren gestorben«, sagt er.
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