Der Jakobsweg
Stern, mich nicht mehr festhalten, als müßte ich bei einer Drehung von ihrer Oberfläche fallen. Nirgendwo könnte ich dann Halt finden, die Schwärze zwischen den flimmernden Punkten würde sich auf mich stürzen und mich erdrücken.
Anderthalb Tage habe ich für 80 Kilometer nach Burgos gebraucht. Die Silhouette der Kathedrale mit ihren hochaufragenden Türmen vor Augen, gehe ich an der Stadt vorbei. Im Westen, am Stadtende, beginnt der Pilgerweg. Es mag Einbildung sein, aber es ist, als sei ich nun wieder mit allen Pilgern verbunden, ich höre ihre Schritte durch die Jahrhunderte, sehe die wandernden Gestalten, vernehme Stimmen, Lieder und Seufzer, Unterhaltungen, Geplauder, Hilferufe und auch ihr Schweigen.
Hier, wo der Weg beginnt, gab es einst eine berühmte Pilgerherberge, das »Hospital del Rey«. Gegründet wurde sie im 12. Jahrhundert und in späteren Jahrhunderten umgebaut und erneuert. Jetzt ist sie verlassen und verfällt. Die Tür zur Kirche ist verschlossen, doch was für eine unvergleichliche Tür! Sie scheint mir das Wichtigste an der Kirche zu sein. In das dunkelbraune Eichenholz sind lebensgroße Gestalten geschnitzt - eine Pilgergruppe. Plastisch treten sie in Erscheinung, realistisch, mitunter fast grotesk im Ausdruck. Wie der Büßerpilger, barfuß und mit einem Stoffetzen um die Hüften. Bart und Kopfhaare umwuchern sein Gesicht, lassen nur die gebogene Nase und tiefliegende Augen erkennen. Die Rippen des Brustkorbes wölben sich unter der eingefallenen Haut, die starken Sehnen des Halses und das knochige Schlüsselbein heben sich plastisch hervor. Allein die Beine sind kräftig, sie tragen den ausgemergelten Körper. Stämmig streben sie vorwärts. Schritt für Schritt ringen die nackten Füße dem harten Boden seinen Weg ab. Neben ihm ein ernst blickender Pilger. Rastend stützt er sich auf seinen Pilgerstock. Am Hut die Muschel, unter dem lange Locken hervorquellen. Hinter ihm ein Jüngling im Profil. Der Wind zerzaust sein Haar. Zielgewiß blickt er in die Zukunft. Ihm folgt eine Pilgerfamilie, der Vater schaut zurück, beugt sich zu seinem Sohn hinab. Dieser scheint noch recht munter und springt hinter ihm her. Die Mutter hat einen Säugling dabei, dem sie gerade die Brust gibt. Ein Greis oder eine Greisin, schwer auf den Stock gestützt, ist die letzte.
Es ist acht Uhr abends. Die Regenwolken hängen noch immer als dichter Vorhang am Himmel. Aber gerade als ich mich schon umwenden und meinen Weg fortsetzen will, schießt die Abendsonne durch ein Wolkenfenster. Es ist ein einzelner Strahl, der die Kirchentür beleuchtet. Das späte Licht vergoldet die Figuren. Die Wirkung auf mich ist eigenartig. Bin ich wegen der Anstrengungen und Entbehrungen nicht mehr ganz bei Sinnen? Mir ist, als würde in dem Moment, als das rotgoldene Licht auf die Tür fällt, die geschnitzte Pilgergruppe lebendig werden. Ich bin tief berührt und bleibe so lange, bis das Licht erloschen und die Sonne untergegangen ist.
Die Abende sind lang, im Sommer. Ich wandere noch zwei Stunden, erreiche das Dorf Tardajos. Bereits in römischer Zeit gab es die Ortschaft, später hatte der Bischof von Burgos hier seinen Palast, und der Herzog von Montemar ließ sich eine Residenz bauen, es gab Herbergen und Hospitäler und zwei Klöster. Von der illustren Vergangenheit ist nichts geblieben, wie in so vielen Orten Spaniens. Es ist ein Dorf, ein richtiges Dorf, es riecht nach Stall, der Mist von Schafen und Mulis liegt auf der Straße, Hunde bellen und Kinder wälzen sich balgend im Staub. Hinter dem nächsten Dorf Rabe de las Calzadas, wasche ich mich an einem klaren Bach und richte mir das Nachtlager zwischen den Feldern. Die Glockentöne der Kirche von Rabe de las Calzadas schwingen durch die Dämmerung. Es ist ein eigenartiger Klang, als ob eine Spieluhr läutet. Ab und zu Hundebellen. Ein Halbmond zieht seine Bahn durch die Nacht.
Am achtzehnten Wandertag führt mich der Pilgerweg weitab von den Straßen durch die einsame Meseta. Die Meseta ist eine Hochfläche, flach wie ein Brett. Kornfelder, so weit das Auge reicht. Unaufhörlich zirpen die Grillen und Feldlerchen flattern gleich schwarzen Punkten im Blau. Ein heftiger, warmer Wind stemmt sich mir entgegen. Nach zwei Wanderstunden erreiche ich einen Abhang, hier fällt die Hochebene steil in ein Tal, unten liegt ein kleines Dorf, Hornillos del Camino. Weißgekalkte Häuser mit Flachdächern, blauen Türen und Fensterläden. Kein Mensch ist zu sehen. Die Glocken
Weitere Kostenlose Bücher