Der Jakobsweg
das verkörpert, was ich mir unter einem Dorf vorstelle. Doch dann finde ich es auch wieder schön, in der Natur zu übernachten. Ich richte mein Lager zeitig, bevor die Sonne untergegangen ist, zwischen Feldern, hinter einer Hecke. Der Boden besteht aus einer weißgrauen Mergelerde und ist sehr steinig. Das frische Brot schmeckt. Ich esse Käse und öffne eine Büchse mit Thunfisch. Flinke Kaninchen wetzen den Feldrain entlang. Eines überrennt mich fast. Im letzten Moment hopst es seitwärts ins Feld. Zwei-, dreimal springt das Tier hoch in die Luft, um über das Getreide blicken zu können. Es sieht urkomisch aus, wie immer wieder der kleine, neugierige Kaninchenkopf über den Ähren auftaucht. Dann bewegen sich nur noch ein paar Halme.
Der Sonnenuntergang ist wie eine perfekte Inszenierung. Als die letzten aprikosenfarbenen Wolken in die Nacht eintauchen, ertönen plötzlich laute Geräusche. Es rattert und knattert. Da, ein dunkler Schatten und noch einer. Zwei Gestalten bewegen sich aufeinander zu, bilden ein Knäuel. Flügelschlagen, sie prallen in der Luft zusammen und fallen schwer zu Boden. Ein harter Kampf ist entbrannt. In der Dunkelheit kann ich nur die Schattenrisse erkennen. Größe, Gestalt und Laute zeigen mir, daß es zwei Rothuhn-Männchen sind. Sie sind etwas größer als Rebhühner und auffälliger befiedert. Die Männchen ziert eine blendendweiße Kehle, anschließend ein schwarzer Latz, der sich in schwarzen Tropfen auf der dunkelvioletten Brust auflöst. Die Flanken sind schwarz, weiß und braun gebändert, der Bauch ockerfarben, Schnabel und Füße rot. Eine erstaunlich bunte Färbung für einen Hühnervögel, der von vielen Feinden gejagt wird. Nur der Rücken besitzt eine olivbraune Tarnfärbung, die aber ausreicht, wenn sich das Tier platt an den Boden drückt und so alle auffallenden Federpartien versteckt. Von den zwei Kämpfern sehe ich nur die Bewegungen und den schwarzen Körperumriß. Es ist zu dunkel, um den Streit weiterzuverfolgen. Beim Einschlafen höre ich noch ihre Stimmen. Als kämen sie nicht aus Vogelkehlen, klingen sie metallisch und hart.
Als ich die Augen wieder öffne, scheint mir die Sonne ins Gesicht. Es geht sich gut in der Morgenfrische. Die Balz der Rothühner läuft auf Hochtouren. Auf den obersten Spitzen von Erdhügeln und Steinhaufen werfen sich die Hähne in Pose, plustern die Federn auf, um größer zu scheinen als sie sind und damit die dekorative schwarz-weiß-braune Bänderung an den Seiten optisch gut zur Geltung kommt, und versuchen, mit nähmaschinenartigen Tönen die Weibchen anzulocken.
Bald senkt sich der Pfad, allmählich diesmal, in ein breites Tal. Der Talgrund ist, sehr eigenartig in dieser trockenen Gegend, mit Nebel gefüllt. Die Sonne gibt ihm einen goldenen Glanz. Der Weg mündet in eine Pappelallee. Es sind herrliche, kräftige Bäume, die mit ihren starken Stämmen und den dunkelgrünen Laubkronen die Straße säumen. Nur ein Moped fährt hier am frühen Morgen. Der Fahrer hält an. Er trägt ein Gewehr über dem Rücken, das mir aus dem vorigen Jahrhundert zu stammen scheint. Ich frage ihn, ob er damit jagen wolle.
»Nein, ich bin kein Jäger, sondern Wächter«, antwortet er. Er passe auf, daß niemand conejos, Kaninchen, und perdiz, Wachteln, aber so werden auch die Rothühner genannt, schießt. Aus dem Dunst taucht die Silhouette eines hochragenden gotischen Bauwerkes auf. Erst als ich davor stehe, erkenne ich, daß es eine Ruine ist. Die Straße führt direkt durch ihre Gewölbebogen hindurch. Das war einmal das Kloster San Antón. Obwohl breite Risse die Außenmauern durchziehen, die Gewölbe auseinanderbersten, die Zwischenmauern zerbrochen sind und kein Dach mehr vorhanden ist, wirkt das Gebäude aus dem 14. Jahrhundert noch immer imposant. Der Nebel verstärkt sich und wallt durch die leeren Fensteröffnungen, als sei das Kloster die Kulisse für einen Gespensterfilm. Doch das ist erst der Anfang. Die Pappelallee macht eine Biegung, und dann öffnet sich der Blick auf eine märchenhafte Burg, hoch oben auf einem völlig kahlen Bergkegel. Wieder muß ich an eine Filmkulisse denken, diesmal für einen Märchenfilm. Jetzt fehlt nur noch der Held, der mit seinem Zauberpferd den glatten Berg hinaufreitet, von dem alle anderen abrutschen und in die Tiefe stürzen. Näher gekommen, erkenne ich, daß die Trutzburg ebenfalls nur noch Ruine ist. Einst ließ sie der Westgote Sigerich bauen, deshalb heißt sie Castrum Sigerici. Obgleich sie
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