Der Jakobsweg
durch ihre Lage auf dem steilen Berg uneinnehmbar scheint, wurde sie schon 882 von Arabern erobert und zerstört. Am Fuße des Lehmkegels liegt die Ortschaft Castrojeriz. Auf einer Türschwelle sitzt ein schwarzes Hündchen in der Sonne und gähnt. Kaum hat es mich erspäht, gebärdet es sich wie ein kleiner Teufel, kläffend und zähnefletschend springt es auf meine Waden zu. Eine Frau eilt aus dem Haus und ruft das Hündchen zurück. Nur widerwillig gehorcht es. Die Frau fragt, ob ich auch nach Santiago ginge. Gestern sei schon ein Pilger, ein junger Mann, an ihrem Haus vorbeigegangen. Wie er denn ausgesehen habe, frage ich.
»Das war ein ganz langer, dünner Bursche, mit sehr kurzen, blonden Haaren, con los pelos muy cortos y tan rubio«, antwortet sie.
Das kann nur Atze gewesen sein, freue ich mich. Vielleicht kann ich ihn heute noch einholen.
Castrojeriz gefällt mir, schade, daß Atze bereits weitergezogen ist. Sonst hätte ich ihn überredet, hier einen Ruhetag einzulegen. Wir hätten zu der Burgruine auf den Berg hinaufwandern und uns überhaupt richtig Zeit nehmen können, die Ortschaft kennenzulernen. Allein habe ich keine Lust zu bleiben, jetzt, wo ich ihn fast eingeholt habe.
Am Ortsausgang beschwört mich ein Mann, um Gottes willen nicht dem Pilgerweg, sondern der Straße zu folgen. Mir gefällt dieser Ratschlag natürlich nicht.
»Hija, no es posible, el camino no existe mas, solamente hay piedras. La carretera es muy buena, sigue por la carretera, por favor! - Tochter, es ist nicht möglich, der Weg existiert nicht mehr, es gibt nur Steine. Die Straße dagegen ist sehr gut, bitte, folge der Straße.«
Es verunsichert mich, wie er so nachdrücklich um mein Wohl besorgt ist, und ich verspreche, seinen Rat zu beherzigen. Doch als der Mann außer Sichtweite ist, denke ich mir, der Weg kann gar nicht so schwierig sein, daß ich nicht doch irgendwie durchkomme. In steilen Windungen zieht der Pfad einen Berg hinauf. Bei jeder Kehre habe ich einen noch schöneren Ausblick auf Castrojeriz, das sich hufeisenförmig um den Burgberg schmiegt. Der Boden glitzert im Sonnenlicht, es sind Glimmerschiefer und Feldspatkristalle, aber es sieht aus wie poliertes Silber. Der breite Bergrücken oben ist mit runden Steinen besät, dazwischen wachsen duftende Gewürzkräuter. Lerchen steigen in die Luft. Ich bin glücklich. Wie gut, daß ich mich nicht habe überreden lassen, auf der Straße zu gehen. Ein Pfad ist natürlich nicht mehr zu erkennen, aber in einem so übersichtlichen Gelände kann man sich nicht verlaufen. Dann stehe ich an der Abbruchkante des Bergriegels und schaue hinab. Der Blick ist überwältigend. Unten liegen, wie ein bunter Teppich, verschiedenfarbige Felder, die sich zu einem harmonischen Muster zusammenfügen.
Da gibt es blaugrüne Flächen mit Frühjahrsgetreide, daneben reift das Winterkorn in Gelbtönen, rot und gelb leuchten brachliegende Felder, auf denen Mohn oder Ackersenf sich angesiedelt haben, dazwischen blendendweiß die gerade umgeackerte Mergelerde. Und über diesem Farbenteppich wölbt sich ein tintenblauer Himmel. Der Anblick macht mich schwindelig, ich weiß nicht warum, aber plötzlich schießen mir Tränen in die Augen. Ich stehe an der Kante, breite die Arme aus und lache laut. Der Wind weht mir die Tränen aus den Augen, die neu nachfließen, und ich glaube zu fliegen. Ich bin außer mir, es ist ein Gefühl der Ekstase. Ich lache, weine und jauchze, springe, hüpfe, tanze und bin ganz und gar wie von Sinnen. Verrückt, ich bin verrückt. Es ist ein Taumel. Ich fliege, fliege, fliege... Weit breite ich die Arme aus, und der Wind trägt mich über die grenzenlose Ebene, sanft lande ich am Fuß des Abhanges.
Als meine Entrücktheit langsam von der Vernunft wieder eingeholt wird, merke ich, daß ich keineswegs geflogen bin. Wahrscheinlich mit schwingenden und wedelnden Armen, aber mit den Füßen auf dem Boden, bin ich abgestiegen. Woher nur dieses tranceartige Außersichsein? Nüchtern betrachtet sind da bloß ein paar brachliegende Felder, sonnengebleicht und mit Unkräutern bewachsen, andere mit Getreide bepflanzt. Es ist eine Schönheit, von niemandem gewollt, von niemandem gestaltet. Gerade das ist es, was mich berührt. Der Mensch beackert das Land, sät Nahrungsmittel an, und die Natur zaubert daraus ein Bild voller Anmut und Harmonie. Schnurgerade zieht sich der Weg durch diese »Tierra de Campo«, rechts hüfthoch der Mohn, links die gelben Blüten des Ackersenfs; ich
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