Der Jakobsweg
wünsche mir, singen zu können. Ein klarer Bach schlängelt sich durch die Ebene. Er ist tief genug zum Baden. Ich ziehe mich aus und lasse mich in das kühle, klare Wasser gleiten. Die verschwitzte Kleidung wasche ich und lege sie auf einen Busch zum Trocknen. Derweil bräunt mir die Sonne den nackten Körper. Gelbbäuchige Schafstelzen fangen trippelnd und wippend Insekten am Ufer. Im Bach wächst Hahnenfuß, die weißen Blüten wiegen sich im Wasser.
Noch 15 Kilometer bis Frómista. Dort gibt es ein refugio und ich bin sicher, Atze anzutreffen. Bei Itero de la Vega überquere ich die elfbögige mittelalterliche Brücke Pons Fiteria. Der Fluß Pisuerga führt viel Wasser. Er speist auch die Bewässerungskanäle, die hier zahlreich das Land durchziehen. Neben einer verwitterten Eremitage liegt ein Friedhof wie ein blühender Garten. Bis zu den Kreuzen hinauf wuchern Winden, Malven und Disteln. In Boadilla del Camino steht auf dem Dorfplatz, umgeben von niedrigen, windschiefen Bauernhäuschen, eine gotische Säule aus dem 15. Jahrhundert. Sie ist gut erhalten und wirkt eindrucksvoll durch ihren reichverzierten kronenartigen Aufsatz. Die Säule weist darauf hin, daß hier in Boadilla Gerichtstage gehalten wurden. Die Kirche Santa María ist verschlossen. Eine Bäuerin sagt mir, der cura habe den Schlüssel, er sei aber in Frómista und würde erst am Abend zurückkehren.
Auf dem Weg nach Frómista, entlang eines schon vor längerer Zeit angelegten Bewässerungskanals, der mit Schilf und gelben Schwertlilien bewachsen ist, wo Rohrsänger aus voller Kehle schmettern und Frösche platschend ins Wasser springen, beginnt plötzlich, ganz ohne Vorwarnung, mein rechtes Knie zu schmerzen. Der Schmerz ist sofort sehr stark und das Bein wie gelähmt, weil das Knie sich nicht mehr anwinkeln läßt. Eine Weile nehme ich Rücksicht, schone das Knie, indem ich steifbeinig einherhumpele. Aber es wird davon nicht besser. Ich will so tun, als ob da nichts sei. Um mich von dem Schmerz abzulenken, spreche ich laut mit mir selbst. Als das auch nicht mehr hilft, singe ich nun doch. Jetzt paßt mein Gesang. Ich kenne nämlich nur Lieder, die ich in der Schule gelernt habe: Arbeiter-, Marsch- und Kampfgesänge. Auf die Melodie kommt es nicht so an, die ist, wenn ich singe, bei jedem Lied gleich, aber dem Rhythmus kann sich sogar ein überanstrengtes Knie nicht widersetzen. So ziehe ich in Frómista ein.
Frómista hat ein Kleinod, die Kirche San Martín. Sie ist einzigartig. So eine Kirche gibt es höchstens noch im Bilderbuch. Es ist eine romanische Basilika aus dem 11. Jahrhundert. Gestiftet wurde sie von Doña Mayor, die auch die Brücke von Puenta la Reina in Auftrag gegeben haben soll. Sie war die Mutter von Garcia III., dem die Jungfrau Maria in der Grotte bei Nájera erschien und der vom Kloster San Millán den Klosterschatz verlangte, um gegen seinen Bruder Fernando in den Krieg zu ziehen. Nach dem Tod ihres Gemahls Sancho III. im Jahr 1035 zog sich Doña Mayor in die Einsamkeit der Meseta zurück. Damals war Frómista, obwohl schon seit Römerzeit existent und in westgotischer Zeit ein bedeutender Ort, durch den Arabereinfall entvölkert worden. Doña Mayor gründete ein Kloster, von dem nur die Kirche erhalten geblieben ist. Schon durch die Farbe des Baumaterials beeindruckt die Basilika; es sind goldgelbe Steinquader, die gleichmäßig bearbeitet und feinverfugt wurden. Im Westen hat die Kirche zwei Rundtürme, die mit flachen Ziegelkappen abschließen, im Osten drei halbrunde Apsiden und einen achteckigen Vierungsturm. Das Dach ist zweifach gestaffelt. Wie bei allen romanischen Bauwerken, aber hier besonders eindringlich, wurde das rechte Maß gewahrt, vollkommen und ausgewogen.
Woher nur wußten damals die Baumeister, wie hoch und breit und lang ein Bauwerk konstruiert werden mußte, damit es klingt? Ja, so ist es - in der Romanik verstand man, mit Steinen zu musizieren, ihnen Klänge, Melodien, Rhythmen und Harmonien zu entlocken. Ich frage mich immer wieder, wenn ich vor diesen Wunderwerken stehe, wieso konnten sie das? Woher kamen die Geheimnisse, die die Baumeister generationenlang an ihre Kinder weitergaben? Später dann erlosch das Wissen der Baumeister - als die Kirche ihre Machtposition gewaltsamer aufbaute und die Inquisition immer mehr Opfer forderte.
Das Besondere an der Kirche San Martín, neben der Harmonie aller Proportionen, sind die Dachbalkenkonsolen. An diesen Sparrenenden der Dächer sind über 300(!)
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