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Der Jakobsweg

Der Jakobsweg

Titel: Der Jakobsweg Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Carmen Rohrbach
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Skulpturen. Aber was für Skulpturen! Ein Panoptikum skurriler Köpfe. Waren mir bereits die Sparrenköpfe an der Kirche in San Juan de Ortega seltsam erschienen, für diese Kirche hat der Künstler noch eigenartigere Wesen geschaffen. Da sind Fratzen, Masken und Dämonenhäupter, gekrümmte und verbogene Körper, aufgerissene Mäuler, aber auch realistische Tierköpfe: Pferde, Hunde, Löwen, Eulen, dann wieder Blätter, Blüten, Ornamente. Ohne eigentlichen Plan scheinen die Figuren aneinandergereiht, verspielt und doch vielsagend und bedeutungsvoll. Die meisten können wir heute nicht mehr deuten. Was auf uns lustig und witzig wirkt, sollte die Menschen damals vielleicht erschrecken. Eine der Figuren ist nackt, sonderbar verkrümmt der Körper, der Kopf scheint zwischen den Beinen zu stecken. Es ist ein Gaukler. Solche Jahrmarktskünstler zogen durchs Land und zeigten artistische Schaustücke, über die die Zuschauer lachten und staunten, man amüsierte sich. Und doch war da gleichzeitig auch ein Grauen vor diesen merkwürdigen Menschen, die ihre Körper so unnatürlich verbiegen konnten und deren Leben unstet und gefährlich war. Die Gaukler verkörperten für die seßhaften Bürger das Abweichen vom Normalen, das Übertreten von Grenzen. Davon waren »ehrbare« Bürger fasziniert und gleichzeitig voller Abscheu. Alles, was sie sich in ihrer Phantasie vorstellten, trauten sie diesen Vagabunden zu, auch alle nur denkbaren sexuellen Ausschweifungen. Die Darstellung des Gauklers versinnbildlicht Wollust und Triebhaftigkeit und zeigt die Übertragung der Ängste von sich selbst auf andere. Indem die Menschen ihre eigenen Begierden auf die Außenseitergruppe der Landfahrer übertrugen, konnten sie sich selbst freisprechen. In der Konfrontation gegen das Fremde kann man auf wunderbar einfache Weise die eigene Unzufriedenheit, Frustration, Enttäuschung, Wut und Angst loswerden. Es ist eine elementare Verhaltensweise, die Menschen immer gegenüber denen zeigen, die wegen ihres Andersseins fremd und bedrohlich erscheinen. Ich erinnere mich an die Bäuerinnen von Torres del Rio und ihre Reaktion auf die Zigeunerkinder. Weil sie nicht zur Dorfgemeinschaft gehören und deshalb nicht kontrollierbar sind, weil sie anders leben und aussehen, wird ihnen alles nur Denkbare zugetraut. »Man weiß nie, was sie im Schilde führen. Sie sind zu allem fähig!« sagten die Bäuerinnen.
    Aber nur einige Skulpturen können wir heute noch deuten. Wir verstehen die damaligen Symbole kaum noch. Ich muß wieder daran denken, daß die wenigsten Menschen im Mittelalter lesen konnten und deshalb viel empfänglicher für bildliche Darstellungen waren, sie anders sahen und begriffen. Fast alle Figuren sind vieldeutig. Meist verkörpern sie sowohl Gutes als auch Böses, Richtiges und Falsches, Negatives und Positives. Dort oben an der Dachkonsole sehe ich die Abbildung einer Eule. Ihre positive Symbolik bedeutet: Erfahrung, Klugheit und Weisheit. Ihre negative verkörpert ein gespenstisches Nachttier, ein Dämon mit gefährlichen Augen und Krallen. Auch der Schlange ist diese Ambivalenz eigen. Sie ist nicht nur böse und schlecht, nicht nur die Verderberin, die Eva mit gespaltener Zunge verführt, sondern sie ist auch die Wissende, sie weiß mehr als andere Lebewesen und sie kann Glück und Fruchtbarkeit bewirken. Welchen Aspekt eine Figur ausdrückt, kann man manchmal an der Zuordnung zu anderen Figuren erkennen und wo sie sich befindet, oben oder unten, rechts oder links, und an beigefügten Details. Von dieser Bildersprache ahnen wir heute kaum noch etwas. Mir scheint, einige Bildhauer hatten ihre Werke auch gegenüber den damaligen Menschen verschlüsselt, so daß selbst die kirchlichen Auftraggeber nicht die Zeichen und Symbole erkannten, die aus vorchristlicher Zeit überlebt hatten. Da die Künstler das Wissen geheimhielten und nur an ihre Nachkommen Weitergaben, wird manches aus heidnischer Zeit überdauert haben. Kurios der Gedanke, daß gerade an den Gotteshäusern Siegel einer geheimnisvollen, mystischen Religion eingeprägt sein könnten.
    Oft umrunde ich die Kirche, den Kopf weit in den Nacken gelegt, um die so skurrilen, witzigen, phantasievollen und rätselhaften Sparrenköpfe zu betrachten. Nun bemerke ich, daß die Kirche zu ordentlich, zu sauber, zu blank geputzt ist, als sei gerade eine deutsche Hausfrau aus der Fernsehwerbung mit Staubtuch, Putzlappen und Blitzsaubermacher über dieses Bauwerk hergefallen. Tatsächlich ist bei

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