Der Jakobsweg
Sie sollen in Erinnerung an die Rettung gemeißelt worden sein.
Ich gehe durch die ruhige, stille Stadt mit ihren sehr engen Gassen. An der Stadt vorbei fließt der Fluß Carrión. Er führt wenig Wasser, blank liegen die Kiesel im Flußbett. Ockerfarbene Steilufer ragen empor. Am flachen Gegenufer liegt das Kloster Zoil. Ich klingele an der Pforte. Ein kleines Fensterchen in der Tür öffnet sich, und ich sehe das Gesicht einer Nonne. Ich frage, ob ich die Klosterkirche besichtigen könne.
»Selbstverständlich!« antwortet sie und ruft: »Antonio, venga! Antonio, komm!«
Da springt ein etwa elfjähriger Junge herbei in kanariengelben Hosen und blutrotem Hemd. Ich bin überrascht, was will so ein Bürschchen im Kloster?
»Ich mache für die monjas, die Nonnen, Besorgungen. Sie sind sehr nett, besonders Schwester Johanna, mit der Sie gerade gesprochen haben«, antwortet er.
Sie kommt uns nach in die Kirche, um Antonio zu sagen, er solle mir auch die Krypta zeigen. So habe ich Gelegenheit, Johanna richtig zu sehen, denn durch das vergitterte Fensterchen konnte ich mir kein Bild machen. Sie wirkt auf mich wie aus einem Märchen. Die Bewegungen ihres grazilen Körpers sind leicht und schwebend, ihre Stimme ist zart und hell, ihr Gesicht strahlt eine innige Lieblichkeit aus. Ein feengleiches Geschöpf. Nie zuvor bin ich einem Menschen begegnet, der so erfüllt von hingebender, sich verschenkender Liebe war. Im ersten Moment bedaure ich, dieses wundervolle Wesen hinter Klostermauern eingesperrt zu wissen. Doch dann denke ich mir, sie würde draußen nicht existieren können, das Leben wäre zu grob für diese fragile, zarte Frau. Gerade weil sie selbstlose Liebe verströmt, würde sie wohl zerbrechen. Ich möchte sie immerzu anschauen. Da aber schwebt sie schon wieder dem Ausgang zu.
Um mit Antonio ins Gespräch zu kommen, sage ich: »Die Schwester Johanna ist sehr schön.«
»Nein!« Seine schwarzen Augen blitzen. »Schön ist ein Wort für Menschen, sie aber ist ein Engel!«
Der Junge führt mich zu den Grabmälern der Grafen Gómez, den Condes de Carrión.
»Hier sind die Grafen Diego und Fernando, zwei Brüder, begraben. Kennen Sie ihre Geschichte?«
»Natürlich nicht.«
Der Junge erzählt nicht nur mit Worten, sondern führt ein regelrechtes Schauspiel auf. Er imitiert die Stimmen und das Geräusch klappernder Pferdehufe, rollt mit den Augen, stampft mit den Füßen, jammert und weint, kämpft mit einem unsichtbaren Schwert gegen seine imaginären Gegner. Er zeigt, wie die jungen Grafen Diego und Fernando nach Valencia reiten, dort die Töchter von El Cid zu freien. Der Campeador ist von diesen Schwiegersöhnen nicht angetan. Sie scheinen ihm zu weich, nicht kampferprobt genug. Da aber der König diese Hochzeit befürwortet, kann er sich nicht widersetzen. Als ein Löwe aus der Menagerie ausbricht - Antonio brüllt löwenecht - bestätigt sich der Verdacht El Cids, denn die Schwiegersöhne ergreifen feige die Flucht. Trotzdem muß der Vater seine liebreizenden Töchter Doña Elvira und Doña Sol mit ihren unwürdigen Gatten ziehen lassen. Antonio setzt plastisch in Szene, wie die bösen Grafen über ihre Gemahlinnen herfallen, sie an den Haaren ziehen, ihnen die Kleider vom Leibe reißen und sie verprügeln, bis beide Frauen ohnmächtig am Boden liegen. Im Wald von Corpes lassen die Grafen die beiden Doñas hilflos zurück und reiten weiter nach Carrión, denn eigentlich seien sie nur an der hohen Mitgift interessiert gewesen, die Ehefrauen aber wollten sie wieder loswerden.
Ich denke mir, die stolzen Töchter des Cid werden wie ihr Vater mit dieser Eheschließung nicht einverstanden gewesen sein. Unglücklich und erbost, den ungeliebten Gatten ausgeliefert zu sein, werden sie diese wohl verspottet und verhöhnt haben, bis die Männer wutentbrannt zugeschlagen haben. Die Frauen wurden zufällig gefunden und gerettet. Nun läuft Antonio zur Höchstform auf. Er führt das Duell vor, das El Cid, der Vater der verprügelten Töchter, vor den Augen des Königs gegen die Grafen bestehen mußte. Das Ergebnis des Kampfes wurde wie ein Gottesurteil angesehen und geglaubt, daß der Verlierer auch der Schuldige war. Antonio sinkt zweimal, die Hand auf das Herz gedrückt, zu Boden, zuerst als Don Diego und gleich darauf als Don Fernando. Die zwei Töchter wurden neu vermählt, mit den Königen von Aragón und Navarra.
Die Landschaft hinter Carrión de Condes ist flach wie eine Tischplatte. Waren es vorher einzelne
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