Der Jakobsweg
inzwischen kostet die Weinherstellung mehr, als wir am Verkauf verdienen, deshalb haben sich die Bauern, so wie auch ich, auf Getreide umgestellt. Damit kann man noch einigermaßen existieren. Wein pflanzen wir bloß zum Eigenbedarf.«
»In meiner Bodega habe ich einen unterirdischen Gang gefunden«, berichtet Pepe. »Er war halb verschüttet. Ich habe ihn freigelegt und bin etwa 20 Meter weit hineingekrochen, dann aber hatte ich Angst, er könnte über mir zusammenbrechen.«
Enrique nickt bestätigend und erzählt: »Ich habe den Ausgang eines Tunnels auf meinem Feld gefunden. Als ich Brachland umpflügte, gab der Boden plötzlich nach. Ich fand einen Gang und dem bin ich gefolgt, in der Hoffnung, er würde zu Pepes gutgefülltem Weinkeller führen«. Alle lachten.
Pepe droht Enrique spaßeshalber: »Ich hätte dich schon erwischt! Meinen Wein lasse ich mir nicht stehlen, Bürschchen!«
»Wißt ihr denn, wer diese Gänge gegraben hat?« fragt Atze.
»Die Tempelritter, wer sonst«, behaupten die Männer einstimmig.
»Die Templer?« zweifle ich. »Wozu haben sie sich soviel Arbeit gemacht?«
»Als sie noch mächtig waren, gehörte ihnen hier die ganze Gegend. Sie haben auch unsere Kirche Santa María la Blanca bauen lassen. Dann wurden sie verfolgt. Sie haben sich Tunnel gegraben, um bei Gefahr ungesehen flüchten zu können«, antwortet Pepe.
»Woher wissen Sie das?« will Atze wissen.
»Das erzählen sich die Leute so«, antwortet Pepe. »Aber genau weiß es natürlich niemand.«
Unsere Gastgeber lassen es sich nicht nehmen, uns per Auto zum refugio zu bringen. Gleich neben der Kirche liegt ein zweistöckiges, unbewohntes Gebäude, ohne jedes Mobiliar. Es soll einst ein Palast gewesen sein. Auf dem Boden, der mit Steinkacheln ausgelegt ist, breiten wir Matten und Schlafsäcke aus.
Der nächste Tag, der Prozessionstag, ist ein Sonntag. Bis Mittag ist kaum ein Einwohner zu sehen, als sei die Ortschaft in einen Dornröschenschlaf versunken. Atze und ich nutzen den Vormittag, um in die Kirche zu gehen, die wir gestern wegen der vielen Menschen nicht richtig sehen konnten. Nun haben wir genug Zeit und Muße. Überraschend, wie diesem Kirchenraum die unverputzten Mauern zum Schmuck werden. Da ist die schöne Farbe des Steins, seine Bearbeitung zu gleichmäßigen Quadern und die exakte Verfügung. Doch die sichtbaren Äußerlichkeiten können nicht die hoheitsvolle Stimmung erklären. Auch Santa María de la Blanca klingt, aber ihre Töne sind andere als die der Kirche San Martín in Frómista. Die Kirche dort, obwohl nach einem männlichen Heiligen benannt, spielte beschwingte Weisen, zu denen sich ein junges Mädchen im Tanze wiegen könnte. Die Kirche hier trägt einen weiblichen Namen - die heilige weiße Maria - doch ihre Klänge sind männlich: tief, ernst, reif, weise. Sarastros Arie würde gut zu diesem Raum passen.
Rätselnd stehen wir in einer Seitenkapelle vor zwei Sarkophagen. Es sind große Steinsärge mit den Skulpturen eines Mannes und einer Frau. Die Frau ist in lange, faltige Gewänder aus Stein gehüllt und trägt ein Band um Kinn und Haube. In der Hand hält sie eine Frucht, wahrscheinlich einen Granatapfel. Der Mann hat einen gekräuselten Bart, ein gefälteltes Mundtuch, und seine Hand umklammert das Schwert. Auch er hat ein faltenreiches, steinernes Totenhemd an, das mit einer breiten Borte verziert ist. An den Grabmälern sind Spuren einer früheren farbigen Bemalung erhalten geblieben.
»Wer mag in diesen Särgen liegen?« fragt Atze.
Wir entdecken keinen Hinweis.
»Este son Don Felipe y su esposa Doña Leonora Ruiz de Castro. Es sind Don Felipe und seine Gemahlin Doña Leonora Ruiz de Castro«, sagt der Pfarrer hinter uns, den wir zuvor nicht bemerkt hatten.
»Wer waren sie? Wann haben sie gelebt?«
Der cura lächelt über unsere eifrigen Fragen. »Haben Sie etwa noch nichts von dem Infanten Don Felipe gehört, der 1271 ermordet wurde?«
»Nein.«
»Dann wissen Sie auch nichts über seinen Vater, Fernando den Heiligen?«
Stummes Kopf schütteln unsererseits.
»Sollten Sie aber, wenn Sie aus Deutschland sind«, sagt der cura streng. »Fernando war mit Beatrix von Schwaben verheiratet. So ist also unser Felipe zur Hälfte ein Deutscher. Er war als fünfter Sohn für eine geistliche Laufbahn bestimmt. Zuerst entwickelte sich alles wie geplant. Er machte Karriere und wurde Abt in Covarrubias, später Bischof von Valladolid und schließlich Erzbischof in Sevilla. Doch plötzlich,
Weitere Kostenlose Bücher