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Der Jakobsweg

Der Jakobsweg

Titel: Der Jakobsweg Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Carmen Rohrbach
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hohe Tafeln gewesen, die von Tälern durchschnitten wurden, so ist es jetzt eine weite Ebene, nur durch den Horizont begrenzt. Der schnurgerade Pfad ist mit unzähligen kleinen braunen Steinchen belegt. Wieder habe ich das Gefühl, die Pilgerströme vergangener Zeiten zu spüren. Der Himmel ist weit und doch gleichzeitig so nah, als brauchte ich nur die Arme auszubreiten und hinauf zu fliegen. Das Licht flirrt und flimmert über dem glatten Land. Der Boden ist karg und trocken. Das Getreide ist hier schon abgeerntet. Stoppelfelder oder die bereits wieder umgebrochenen braunen Erdschollen sind ausgedörrt.
    Außer mir sind Trauersteinschmätzer die einzigen Lebewesen in dieser Ödnis. Sie fliegen vor mir her, als wollten sie mir den Weg zeigen, schwirren eine Strecke voraus, Flügel und Schwanz weit gespreizt, dabei flaggen die schneeweißen Schwanzfedern wie ein Signal, und dann warten sie auf einer Erdscholle oder einem Stein am Wegrand, bis ich sie wieder eingeholt habe. In der Ferne hebt sich eine senkrechte Linie gegen den Horizont ab. Ein Pfahl? Ein abgestorbener Baum? Im Geflimmer der Luft ist das Bild unscharf. Aber weit sind die Entfernungen in der Meseta, die man überblicken kann. Ich nähere mich allmählich der aufragenden Figur, bis ich erkennen kann, daß es ein Schäfer ist, der bewegungslos auf seinen Stock gestützt dasteht.
    Er könne kaum leben von dem, was die Schafe einbringen, sagt er. Denn für Wolle, Milch und Fleisch würde von den Aufkäufern, die die Preise diktieren, nicht genug gezahlt werden. Die Dörfer mit ihren Häusern aus erdbraunen Lehmziegeln fallen in der Landschaft kaum auf. Es sind ärmliche Orte, nur eine Handvoll Hütten, aber sie tragen wohlklingende Namen, die an den Pilgerweg erinnern: Calzadilla de la Cueza, Terradillos de los Templarios, San Nicolas del real Camino. Hier scheinen heute kaum noch Menschen zu wohnen. Ich treffe einen alten Mann. Schlurfend läuft er über den buckeligen Dorfweg, eine Schubkarre vor sich herschiebend.
    »Wir sind hier nur noch 60 Leute, alle so alt wie ich. Die Jungen wandern weg in die Städte«, klagt er. Resigniert erzählt er vom Ende des Bauernstandes: »Die Preise für Getreide und Wein, für Fleisch und Wolle, überhaupt für alle Agrarprodukte, sind zu niedrig angesetzt. Von dem Verkauf kann niemand seine Familie ernähren.«
    Er doziert über Wirtschaft und Politik, über Spanien und die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft. Gespannt höre ich ihm zu. Er redet, als würde er vor einem großen Publikum sprechen. Wo hat er gelernt, so brillant zu formulieren? Er macht eine müde Handbewegung: »Mit meinem Sohn habe ich mich oft unterhalten. Ein kluger Junge. Ich habe ihn studieren lassen - Agraringenieur! Doch wie lebt er trotz seines Studiums? Er ist in Deutschland, macht eine dreckige Arbeit, um Geld zu verdienen. Ich wollte, er würde zurückkehren. Aber er sagt, er hätte in Spanien keine Chancen, doch was nützt ihm das Geld letztendlich?«
    Ich spüre den Schmerz im Knie wieder stärker. Die Weite hat mich unaufhaltsam zum Gehen verführt. Etwa vierzig Kilometer habe ich heute zurückgelegt. Mähdrescher bewegen sich wie urzeitliche Ungeheuer über die Felder und hinterlassen kahle Flächen und hartgepreßte Strohballen.
    Es ist nicht einfach, einen Schlafplatz zu finden, keine Bäume oder Büsche sind als Sichtschutz vorhanden, nur Felder, durchzogen von schnurgeraden, begrünten Wegen. Schließlich entdecke ich eine mit Klee bewachsene Feldecke, die ringsum hinter hohen Halmen verborgen ist. Wie eine reife Orange versinkt die Sonne im Getreidemeer.
    Doch bald bereue ich es, mir kein sicheres Nachtquartier gewählt zu haben. Denn dunkel bewölkt sich der Himmel. Die Sendboten der Regengöttin kommen. Wie prallgefüllte, schwarze Säcke hängen die Wolken über mir, bereit, ihre Wassermassen auf mich herabstürzen zu lassen. Es wird Nacht. Noch regnet es nicht. Aber Wetterleuchten! Wie ein Flächenbrand zuckt das Feuer mal hier mal dort am Himmel. Tausend Irrlichter scheinen durch die Nacht zu tanzen. Doch ich bin zu müde und schlafe ein, trotz der Furcht vor einem prasselnden Gewitterregen.
    Ein paar Tropfen, die mir ins Gesicht platschen, wecken mich. Ich ziehe die Hülle des Biwacksackes über den Kopf und bin sofort wieder eingeschlafen.
    Am Morgen sehe ich, die Erde ist nicht mal feucht geworden. Ringsum ist sie gepünktelt von kleinen Dellen, der aufgeschlagenen Regentropfen, die aber sofort verdunstet sind, und nur

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