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Der Jakobsweg

Der Jakobsweg

Titel: Der Jakobsweg Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Carmen Rohrbach
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staut sich am Eingang. Die meisten müssen der Messe von draußen beiwohnen. Alle sind heiter, lachen und scherzen. Für sie ist die Prozession eine religiöse Zeremonie, aber auch ein Fest, ein Volksfest. Religion und Leben sind nicht getrennt, sondern eins gehört zum anderen. Die Leute sind stolz auf ihre Jungfrau vom Fluß; sie haben Geld gespendet, damit die Eremitage innen neu gestaltet werden konnte.
    Pepe, Paco, Enrique und Jaime erkennen wir kaum wieder, so verändert sehen sie in ihrem Sonntagsstaat aus. Würdevoll stellen sie uns ihre esposas, ihre Ehefrauen, vor und mit zärtlichem Vaterstolz zeigen sie uns ihre hijos, ihre Söhne. Gemeinsam gehen wir nach Villalcázar zurück. Dort sind inzwischen Verkaufsbuden, Karussells und eine Tanzfläche aufgebaut worden. Jetzt wird gefeiert! Eine Kapelle spielt, die Menschen tanzen, essen, singen und trinken. Nonnen in ihren schwarzen Ordensgewändern lassen sich von einem Kettenkarussell im Kreis drehen.
     

17 Von Villalcázar bis Sahagún
     
    Mit noch schwerem Kopf nach soviel Wein beginne ich wieder meine Wanderschaft, nun bin ich schon 21 Tage unterwegs. Die Ruhepause in Villalcázar scheint meinem Knie gutgetan zu haben, es schmerzt kaum noch. Der Holländer wäre gern gemeinsam mit mir gelaufen. Ich habe ihm erklärt, warum ich allein gehen möchte. In den Ortschaften gefällt es mir, mit jemandem zusammen zu sein und mit Atze habe ich mich gut verstanden. Ohne ihn hätte ich wahrscheinlich gar nicht so viele Leute kennengelernt und mich auch nicht in die Bodega einladen lassen. Aber draußen, in der Landschaft, muß ich allein sein, um die Natur erspüren, erfahren, erleben zu können. Nur wenn ich allein bin, finde ich meinen Rhythmus. Nur dann entsteht ein mystisches Versinken in der Landschaft, das schwebende Gefühl, in Raum und Zeit aufzugehen. Ich habe aber Atze versprochen, in der nächsten Stadt auf ihn zu warten, in Sahagún oder in León.
    Es ist kalt und sehr windig. Ein ungewohntes Wetter nach all den sonnenheißen Tagen. Ich habe einen warmen Pullover und den Anorak an. Tief jagen dunkle Wolken über den Himmel - die Boten der Regengöttin, der Jungfrau vom Fluß.
    In Carrión de los Condes, nur zwei Stunden von Villalcázar entfernt, will ich länger bleiben, um meiner Begeisterung für die Romanik zu frönen. In dem kleinen Landstädtchen gibt es gleich zwei romanische Kirchen. Das Portal der Jakobskirche zeigt im mittleren Bogenlauf zweiundzwanzig Handwerker mit typischen Werkzeugen und Tätigkeiten: einen Töpfer mit Krug, einen Bäcker mit einem Brotlaib, einen Musikanten mit Laute, aber auch einen lesenden Mönch und einen saltoschlagenden Gaukler. An fast allen Kirchen gibt es Darstellungen von Heiligen, Aposteln, Engeln, Teufeln und Dämonen, und hier steht plötzlich der arbeitende Mensch im Blickpunkt!
    Die Einwohner von Carrión waren im Mittelalter sehr wohlhabend. In dem Pilgerführer aus damaliger Zeit, dem »Codex Calixtinus«, steht: »... der Ort ist reich, es wird Brot und Wein hergestellt, es gibt Fleisch und alle Arten von Produkten.« Wahrscheinlich waren deshalb die Menschen hier so selbstbewußt, nicht Himmel und Hölle abbilden zu lassen, sondern sich selbst, die Handwerker bei ihren profanen Tätigkeiten. Im Kontrast zu diesen tüchtigen Bürgern drohen auf den Säulenkapitellen Ungeheuer. Sie zerfleischen und verschlingen Menschenleiber. Das Reale wird sofort wieder vom Phantastischen durchkreuzt, die Wirklichkeit mit dem Irrealen verwoben.
    An der anderen romanischen Kirche Santa María del Camino fallen die Stierköpfe auf, die paarweise in den Eingang hineinragen. In der Kirche erklärt ein Priester drei Spaniern ein Gemälde. Ich stelle mich dazu. Er erzählt die Legende von den hundert Jungfrauen. Hundert junge Mädchen mußten als Tributzahlung an die Araber ausgeliefert werden. Der Sultan Miramamolin sollte diese »Gabe« erhalten, jener Miramamolin, der einen faustgroßen Smaragd am Turban trug und später von dem Zweimeterrecken Sancho el fuerte besiegt wurde. Die Mädchen weinten. Unbeeindruckt von ihrem Jammern und Zagen führten die arabischen Tributeintreiber sie ab. Da erschienen plötzlich zwei Stiere, die Symboltiere der altiberischen Kultur Spaniens, und retteten auf wunderbare Weise die Jungfrauen. Sie konnten in ihre Heimatorte zurückkehren und bestärkt durch das Wunder, verweigerten fortan die Einwohner den schändlichen Tribut.
    Der Priester weist auf die verwitterten Stierköpfe am Eingang.

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