Der Jakobsweg
vor den letzten Weihen, ließ er sich in den Laienstand zurückversetzen. Diesen Sinneswandel soll eine Frau bewirkt haben, Christina von Norwegen, die Tochter König Haakonsons.«
»Wie kam sie hierher?« unterbricht Atze erstaunt.
»Sie wurde geholt, als Braut von Alfons X., dem älteren Bruder des Felipe. Doch Alfons, der Thronerbe, wollte plötzlich nichts mehr von der Norwegerprinzessin wissen. Felipe nahm sich der Verstoßenen an. Es muß die große Liebe gewesen sein.« Der Priester lächelt und fährt fort: »Christina war sehr schön, von hohem Wuchs, mit langen, blonden Haaren. Ehrlich gesagt, kann man nicht verstehen, warum Alfons, obwohl er der Weise genannt wurde, eine solche Frau abgelehnt hat. Christina und Felipe wollten heiraten. Alfons schien das nun auch wieder nicht recht zu sein. So schlossen sie, gegen seinen Willen und ohne das diplomatische Protokoll zu beachten, den Ehekontrakt.«
Gespannt haben wir zugehört und wagten keine Zwischenfrage. »Und was passierte dann?«
»Wie immer bei der großen Liebe, sie kann nicht dauern«, sagt weise der Priester. »Schon nach zwei Jahren starb die blonde Norwegerin. Bei Covarrubias, in der Nähe von Santo Domingo de Silos, liegt sie begraben.«
»Ach«, entfährt es uns beiden voller Enttäuschung.
»Die Geschichte geht noch weiter«, sagt der cura, »Felipe heiratete erneut. Seine zweite Frau Doña Leonora Ruiz de Castro liegt hier«, er zeigt auf die Grabfigur. »Die Beziehung Felipes zu seinem Bruder Alfonso war seit der Hochzeit mit der Norwegerfürstin schwierig und bald verschwor er sich gegen den Bruder und König. Wie er gestorben ist, weiß man nicht, manche Historiker behaupten, Alfons der Weise habe ihn umbringen lassen.«
»Uff, unglaublich, was damals so passiert ist. Die reinsten Krimistories!« meint Atze.
»Denken Sie etwa, heute passiert das nicht?« erwidert der cura. Er weist auf die Grabmäler und fragt: »Haben Sie sie richtig angesehen? Sie sind einzigartig, und wir in Villalcázar sind sehr stolz auf sie. Einmal wollte man sie schon zu einer Ausstellung nach Madrid holen, aber unsere Leute haben das nicht zugelassen. Sie meinten, denen in Madrid sei nicht zu trauen, sie würden dann gleich unsere Särge behalten. Schauen Sie, nicht nur, daß es sehr wenige bemalte romanische Sarkophage gibt, auch die Darstellungen an den Seitenwänden sind wunderbar. Sie sehen, der Künstler hat keinen umlaufenden Fries geschaffen, sondern jede Szene steht für sich, und zwar frontal auf den Betrachter ausgerichtet. Hier, die drei Reiter mit ihren Pferden, mit den Köpfen nach vorn. Sie führen den Leichenzug an. Die Sargträger, die Klageweiber, Mönche, Kirchenfürsten, Leonora, die sterbend auf ihr Bett sinkt, lauter einzelne Bilder. Es sind nur Szenen von Sterben und Tod, keine einzige Darstellung aus dem Leben von Leonora und Felipe.«
Als wir die Kirche verlassen, flüstert mir Atze ins Ohr: »Also, ich finde es total ungerecht, daß man die Christina so weit weg und allein in Covarrubias begraben hat. Da sie doch die große Liebe des Felipe war, hätte man sie an seiner Seite aufbahren sollen!«
Auf dem Vorplatz der Kirche formiert sich der Prozessionszug. Alle 1300 Einwohner scheinen versammelt zu sein: Kinder, Frauen, Männer, Alte. Die alten Frauen mit ihren schwarzen Kleidern und schwarzen Kopftüchern, die alten Männer, gebeugt, mit wetterzerfurchten Gesichtern und schlurfenden Schritten. Fahnen, Stangen, Heiligenbilder werden mitgeführt. Der Zug bewegt sich auf sandigem Weg. Dumpf tönen die Schritte von über tausend Menschen. Anfangs nur dieses Dröhnen, dann gemurmelte Gebete und schließlich Gesang. Gesang, schwer und tragisch; die drei Kilometer bis zur Eremitage dauert er an. Die Sonne scheint grell, und ein stürmischer Wind bläht die Fahnen und stemmt sich den Menschen entgegen.
»Sie werden sehen«, sagt jemand zu uns, »die virgen del río, die Jungfrau vom Fluß, wird uns Regen schenken.« »Ja«, bekräftigt eine andere Frau, »jedes Jahr regnet es nach der Prozession.«
Ich sage auf deutsch zu Atze: »Ich glaube, die virgen del río war in heidnischer Zeit eine Regengöttin. Es ist ihr nur ein christlicher Kontext übergestülpt worden. Doch noch immer, nach so vielen Jahrhunderten, vertrauen die Menschen auf ihre einstige Kraft.«
Die Eremitage selbst enttäuscht mich. Außen ist sie zwar aus klobigen, verwitterten Steinen errichtet, innen aber völlig verunstaltet: sehr neu und modern. Die Menschenmenge
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