Der Jakobsweg
Geld für das kostspielige Gotteshaus ausgeben. Stell dir vor, über Jahrhunderte blieb diese schöne gotische Kathedrale eine Bauruine. Erst im 16. Jahrhundert wurde sie fertig gebaut.«
Von unserem Platz im Café können wir sie in Muße betrachten. »Nach der Enttäuschung mit der Kathedrale in Burgos habe ich gar keine rechte Lust hineinzugehen«, sage ich.
Der junge Holländer ist anderer Meinung: »Das ist doch Quatsch! Sie ist wunderschön. Schau dir mal die Fassade an!« An der Westfassade sind nebeneinander drei Portale. Darüber eine riesige Fensterrose. Rechts und links stehen die beiden Türme als eigenständige Baukörper, nur durch mächtige Strebepfeiler gegen das Kirchenschiff abgestützt. Der Glockenturm schließt mit einer einfachen steinernen Haube ab, der Uhrturm mit einem kunstvollen Steinfiligran.
»Gehen wir, schauen wir sie uns innen an«, drängt Atze. Die Portalzone liegt gut geschützt unter einer tiefen Vorhalle, deshalb sind die Skulpturen kaum verwittert. Der Figurenreichtum ist groß; es braucht Zeit, sich wenigstens einen Überblick zu verschaffen. Die beiden Seitenportale zeigen Szenen aus dem Leben Marias. Am Mittelportal ist das Jüngste Gericht dargestellt.
»Schau dir das an! Welch drastische Phantasie!« Atze zeigt auf die rechte Seite des Tympanons. Dort sind zwei riesige Kessel dargestellt, die über dem Feuer hängen. Man sieht die züngelnden Flammen. Teufel werfen die Sünder in das brodelnde Wasser. Der mittlere Teufel trägt eine nackte Frau auf den Schultern, kopfüber läßt er die Schöne mit wohlgeformten Brüsten in den dampfenden Kessel fallen.
Wir öffnen die hohe, mit Schnitzwerk reich verzierte Tür und treten ein. Es dauert lange, bis wir beide etwas sagen können. Auch dann stammeln wir nur: »Ach... nein... so was... das gibt es doch nicht... unglaublich... wie schön...« Als würden wir uns in einem bunten Glaspalast befinden, sind wir rings umgeben von farbigen Fenstern. Die Fenster bilden den Raum, das Mauerwerk dient nur als Rahmen. Farbige Lichtspiele, flimmernde Reflexe widerspiegeln sich in der hohen gotischen Halle. In den Fenstern im Osten, dort, wo jetzt die Sonne steht, glühen die Farben besonders intensiv.
»So ein Blau! Sieh dir mal dieses Blau an«, ruft Atze ein ums andere Mal aus.
Nicht allein das Blau, alle Farben des Lichts sind vertreten. Einige Fenster und vor allem die Rosetten, zeigen ornamentale Muster, andere Fenster wieder Szenen mit Menschen, Tieren, Aposteln und Heiligen. Es sind aber nicht nur die einzelnen Fenster, die wir bewundern, sondern ihre Gesamtheit, ihre Vielzahl, die diese Kathedrale in einen Lichttempel verwandelt.
Beglückt von dem Erlebnis, schlendern wir ziellos durch León. Wir wollen prüfen, ob unser gestriger flüchtiger Eindruck stimmt, daß dies die schönste Stadt des Pilgerweges ist. Wir sehen stattliche alte Häuser, nicht übermäßig gepflegt, gerade richtig, um lebendig auszusehen. Die Gassen verwinkelt und mit Kopfsteinpflaster, die Straßen schmal, mit mehr Fußgängern als Autos belebt. Die Häuserzeilen sind oft mit Arkaden geschmückt, die Plätze mit Bäumen und wassersprudelnden Brunnen. Die Stadt ist betriebsam, aber nicht hektisch. Die Leoneser nehmen sich Zeit, für eine Plauderstunde mit dem Nachbarn, für ein Schwätzchen mit einem Fremden und für einen café oder eine copita, ein Glas Wein, in der Bar unter den Arkaden. Das Schwere, Strenge, Ernste, das in der kastilischen Wesensart zum Ausdruck kommt, wird bei den Leonesern durch einen heiteren, eigentlich südländischen Charakterzug überspielt.
»Hier möchte ich bleiben! Hier ist es schön«, zitiert Atze sehr frei nach Goethe.
»Bestimmt sind die Menschen hier so lebensfroh und scheinen eher Italiener als Spanier zu sein, weil León römischen Ursprunges ist«, scherze ich.
»Nee, das ist zu lange her, inzwischen haben sie sich zu sehr vermischt«, geht Atze ernsthaft auf meinen Spaß ein.
Im Jahr 70 n. Chr. befand sich hier die Siedlung einer römischen Legion, die siebente Legion des Augustus. Von »Legion« soll der Name León abgeleitet sein. Im Jahr 540 eroberte der Westgote Leowigild - auch er trägt die Silbe »leo« im Namen, käme also auch als Namenspatron in Frage - mit seinem Heer die römische Ortschaft. Bis zum Jahr 717 existierte León unter westgotischer Herrschaft, dann wurde sie beim Ansturm der Araber verwüstet. Erst König Ordoño II., der von 914 bis 924 regierte, wagte sich aus seinem Versteck im
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