Der Jakobsweg
elf Jahren und mehr, überhaupt ihr ganzes Leben. Aber trotzdem schade.« Wir sind die letzten Gäste. Die Bedienung, Tochter der Wirtsleute, setzt sich zu uns. Seufzend sagt sie: »Ach, ich beneide euch. Ihr könnt so vieles sehen. Ich dagegen bin noch nie aus León herausgekommen.«
Atze fragt sie, was sie uns empfehlen würde, in ihrer Heimatstadt zu besichtigen.
»Wie lange habt ihr Zeit?«
»Ein, zwei Tage.«
»Oh, das ist viel zuwenig! Ihr braucht mindestens eine Woche«, meint sie. Nach kurzem Nachdenken rät sie: »Also, unbedingt müßt ihr unsere Kathedrale sehen, denn sie ist wirklich etwas Besonderes, und dann noch das Panteón Real in der Kirche San Isidoro, das ist auch einzigartig.«
Atze läßt die Glocke an der Theke bimmeln, und wir bedanken uns für die gute Bewirtung. Gemächlich schlendern wir durch die Altstadt. Uns beiden schmerzen die Füße von der Wanderung durch die Meseta. So spazieren wir in Richtung des refugios, in einem Nebengebäude der Klosteranlage von San Isidoro. Diese Unterkunft für Pilger hat mehrere Zimmer ohne jedes Mobiliar. Dort hatten wir uns heute wiedergetroffen. Wir queren die Plaza Mayor, einen rings von Häusern umschlossenen Platz mit Arkaden.
»Setzen wir uns in eines der Cafes?« schlägt Atze vor. Es ist warm genug, um draußen zu sitzen. Wir bestellen vino tinto.
»Weißt du, Atze, León ist die erste Stadt auf dem Pilgerweg, die mir gefällt.«
»Kannst du das schon sagen? Du hast doch gar nicht viel gesehen«, gibt er zu bedenken.
»Ich spüre, daß ich diese Stadt mag. Sie hat Persönlichkeit. Sieh dir mal diesen Platz hier an. Hat er nicht Charakter?«
»Ja, ich finde ihn auch schön. Die Front der Häuser mit den Arkaden, die Ruhe, keine Autos...«
Ich unterbreche ihn: »Das ist mir auch aufgefallen, in León sieht man viel weniger Fahrzeuge als in den anderen spanischen Städten. Es ist eine Stadt für Menschen zum Leben.«
»Ich glaube, die Leoneser sind besonders freundlich.«
»Genau, das finde ich auch. Sie sind offen und herzlich, und jeder scheint jeden zu kennen.«
Atze beendet unseren Lobgesang: »Also verleihen wir León den Titel: schönste Stadt des Pilgerweges!«
Es ist zwölf Uhr Mitternacht, als wir vor der Tür zum refugio stehen - verschlossen! Wir drücken die Klingel. Niemand öffnet!
»Verdammt, ich habe meinen Rucksack und den Schlafsack da drin«, stöhnt der Holländer.
»Ich doch auch«, sage ich.
An der rechten Seite entdecken wir ein zwei Meter hohes Tor aus eisernen Gitterstäben. Es ist einfach hinüberzuklettern. Jetzt befinden wir uns in einem schmalen Hof an der Hinterfront.
»Also, wenn ich nicht irre, liegt auf dieser Seite das Zimmer, in dem ich meine Sachen gelassen habe«, sage ich voller Hoffnung, denn ich habe das Fenster offen gelassen.
»Ja, das dort, das muß es sein!«
Atze versucht hochzuspringen. Doch der Fenstersims ist unerreichbar weit oben.
»Ich weiß, wie wir reinkommen. Wenn ich mich auf deine Schultern stelle, erreiche ich das Fenster. Und dann öffne ich die Tür von innen und lasse dich ein«, schlage ich vor. Der Junge ist fast einen Meter neunzig, auf seinen Schultern stehend, kann ich mit den Händen gerade den Fensterrahmen fassen und mich mit einem Klimmzug hochziehen. Geschafft! Wir haben doppeltes Glück. Die Außentür ist von innen nur mit einem Riegel verschlossen.
Atze jubelt: »Mensch, toll! Mit dir kann man einbrechen!«
»Pssst«, beschwichtige ich ihn, »wir wollen doch jetzt nicht mehr den Pförtner wecken.«
»Wohin gehen wir zuerst?« fragt er mich unternehmungslustig am nächsten Morgen.
»Frühstücken!«
»Jetzt bin ich baff. Du bist ja auf einmal richtig normal«, staunt er. »Und ich befürchtete schon, du schlägst einen Fastentag vor.«
In einem Straßencafé mit Blick auf die Kathedrale bestellen wir dos cafés con leche, zwei Kaffee mit Milch.
»Weißt du, wann die Kathedrale gebaut wurde?« fragt Atze.
»Nein.«
»Aber ich! Habe ich nämlich in einem Buch über León gelesen. Hör zu. Du erinnerst dich doch noch an Alfons X., den Weisen, der die schöne Prinzessin aus Norwegen verstieß und dessen Bruder Felipe in Villalcázar begraben ist? Dieser Alfons hat den Bischof von León, Martín Fernández, mit Spenden, Stiftungen und Ablässen unterstützt, damit der Bau im Jahre 1205 begonnen werden konnte. Der Baumeister hieß Maestro Enrique. Aber als Bischof Martín Fernández 1289 starb, wurde der Bau gestoppt. Seine Nachfolger wollten kein
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