Der Jakobsweg
Kantabrischen Gebirge heraus und erbaute León neu als Hauptstadt des asturischen Königreiches.
Vom Laufen auf dem harten Pflaster ruhen wir uns auf einer Bank im Park aus.
»Habe ich dir schon gesagt, daß ich Bildhauer werde?« fragt Atze.
»Bildhauer?« echote ich. »Du wolltest doch Dichter, Schriftsteller...«
Er unterbricht mich: »Gedichte kann ich ja trotzdem machen. Aber Bildhauer, das wäre das Richtige für mich. Das weiß ich jetzt ganz sicher!«
»Bist du wegen der Portalskulpturen draufgekommen?«
»Nee, ich habe mich bereits vor der Pilgerreise mit Bildhauerei beschäftigt, übrigens auch mit Architektur. Weißt du, daß das dort drüben ein Gebäude von Gaudí ist?« Er zeigt auf ein Haus aus weißen Steinen mit schieferdunklen Hauben an den Ecken. Es sieht ungewöhnlich aus.
»Was hast du gesagt? Wer hat es gebaut? Gaudí?«
»Ja, Gaudí, Antoni Gaudí. Er war ein sehr genialer spanischer Architekt. Ich bewundere ihn sehr. Noch ein weiteres Bauwerk von ihm gibt es auf dem Pilgerweg, den Bischofspalast in Astorga. Die bedeutendsten seiner Werke sind in Barcelona. Mir gefällt seine Auffassung von Architektur. Er sagte, ein Haus sei wie ein Baum. Und er meinte das wirklich so. Er studierte die Bauformen der Natur und konstruierte seine Häuser nach organischen Strukturprinzipien. Starre Formen und gerade Linien lehnte er ab, er schuf schräge, gewölbte, gebogene, gewellte, verzweigte, schuppenförmige Gebilde, wie sie eben in der Natur vorkommen. Er konnte mit dem Stein machen, was er wollte. Der Stein war wie Wachs in seinen Händen.«
»Lebt er nicht mehr?« frage ich dazwischen.
»Nein, er starb 1926. Beim Überqueren einer Straße wurde er von einer Trambahn erfaßt und tödlich verletzt. Er war 74 Jahre alt, dennoch wurde er mitten aus der Arbeit an seinem Lebenswerk herausgerissen, der Kirche »Sagrada Familia« in Barcelona. Er wollte mit dieser Kathedrale ein Universum schaffen, eine ganze Welt. Statt statischer Pfeiler und Strebebögen verwandte er baumartige Stützen, die gegabelt und verzweigt die Last der hohen Türme verteilten. Die Fassaden verzierte er mit lebensechten Nachbildungen von Enten, Gänsen, Hühnern, Tauben und anderem Getier und mit naturnah wiedergegebenen Pflanzen. Als Vorbilder für die biblischen Figuren nahm er seine Arbeiter, Bekannte und Nachbarn, von denen er Gipsabgüsse anfertigte und danach seine Modelle schuf. Er war nicht nur Architekt, er war alles! Ein großer Künstler!«
»Und ist sie nicht fertig geworden, die >Sagrada Familia«
»Nein, an ihr wird immer noch weiter gebaut, aber mit großen Unterbrechungen, und es gibt einige Leute, die meinen, der Bau solle ganz gestoppt werden, denn es sei unmöglich, ihn im Sinne von Gaudí zu beenden, denn er hatte eine ungewöhnliche Arbeitsmethode. Er entwickelte seine Ideen während der Arbeit, ständig hatte er neue Einfälle.«
»Was wird nun aus seinem Lebenswerk?«
»Die Fassade steht, sie ragt wie eine bizarre Silhouette aus dem Häusermeer Barcelonas, doch innen ist sie eben leer, ausgehöhlt wie eine Puppenhülle, aus der ein Falter herausgekrochen ist.«
»Toll, wie du das sagst, Atze, ich kann es mir richtig gut vorstellen.«
Mir gefällt die poetische Ausdrucksweise des jungen Holländers. Und obwohl deutsch ja nicht seine Muttersprache ist, hat er einen erstaunlich reichen, bildhaften Wortschatz.
»Nun hast du mich richtig begeistert für Gaudí, und ich bin sehr neugierig auf den Bischofspalast in Astorga.«
»Hoffentlich bist du nicht enttäuscht. Denn gerade auf dieses Bauwerk trifft nicht zu, was ich gesagt habe. Es soll auch phantasievoll und verspielt sein, aber noch mit starren Formen und geraden Linien.«
»Atze, ich habe wieder Lust zum Laufen. Wollen wir nun zur Kirche San Isidoro gehen?«
An San Isidoro interessiert mich vor allem das Panteón Real, die Grabkammer der Könige, weil es ein Meisterwerk der spanischen Romanik sein soll.
Der Führer, ein Geschichtsstudent, kennt sich gut aus, und wir erfahren, wer eigentlich der heilige Isidoro war und wie seine Reliquie nach León kam.
Der Student ist ein junger Mann mit weichen Gesichtszügen, dunklen, langbewimperten Augen, einem roten, herzförmigen Mund und schwarzen Haaren, fast bis auf die Schultern. Zu diesem sanften, eher mädchenhaften Gesicht befindet sich der plumpe, aufgeschwemmte Körper in hartem Kontrast. Die verrückte Vorstellung, dieser Mann könnte aus zwei Menschen zusammengesetzt sein, irritiert mich
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